S.P.O.N. - Die Mensch-Maschine Wenn Ahnungslosigkeit auf Bösartigkeit trifft

Ist Deutschland digitalfeindlich? Die Affäre um den Staatstrojaner legt diesen Schluss nahe, findet Sascha Lobo und macht gleichzeitig Hoffnung, dass dies kein Dauerzustand sein muss. Aber einer, der viel Geduld erfordert.

Vielleicht hat die ehemalige niedersächsische Sozialministerin Mechthild Ross-Luttmann (CDU) bei der Landtagsdebatte um die "Vorratsdatenspeicherung" den entlarvendsten Satz des Jahres gesagt: "Es geht nicht darum, dass wir zu einem Überwachungsstaat werden, sondern lediglich darum, zu speichern, wer wann mit wem und wo telefoniert hat."

Dieser absurde Satz lässt ein so komplexes Unverständnis der Materie vermuten, dass jede ernsthafte Diskussion unmöglich wird. Und offenbar handelt es sich nicht um einen einmaligen Ausrutscher. Das aktuelle Debakel um den Staatstrojaner zeigt, dass Teile des deutschen Staatsapparates im digitalen Raum eher durch Fachwissen unbelastet agieren.

Bei vielen Bürgern hat schon die Finanzkrise eine unangenehme Vermutung aufgebracht: Die Ahnungslosigkeit der Politik wird durch bösartige Kräfte ausgenutzt. Das scheint auch in der digitalen Sphäre so zu sein. Durch den Staatstrojaner wird deutlich, dass sich die digitale Ahnungslosigkeit von der Spitzenpolitik bis tief in die ausführende Administration hineinziehen kann. Wenn die vom Chaos Computer Club (CCC) konstatierten, gravierenden Mängel der Staatsmalware so offensichtlich sind, wie die meisten Experten bestätigen - weshalb war in den Behörden niemand in der Lage, das festzustellen? Sitzt wirklich niemand dort, der bei einem überaus verfassungsrelevanten Thema über eine verlässliche, nicht von Eigeninteressen durchseuchte Expertise verfügt?

Fehlendes eigenes technologisches Know-How ergibt in Zeiten der Totalvernetzung vor allem eine besorgniserregende Abhängigkeit. Und zwar von Unternehmen wie DigiTask, die die Verantwortung für den korrekten Einsatz der Software bei den Behörden sehen.

Bösartigkeit und Ahnungslosigkeit Hand in Hand

Wie kommt es eigentlich, dass gerade diejenigen, die sonst gegen die Freiheit jede erdenkliche Maßnahme für die vorgebliche Sicherheit ergreifen wollen, technisch derart unsicheren Unsinn unternehmen? Sicherheit gilt dort offenbar abseits der Realität nur als Gefühl, das der Wählerschaft medial vermittelt werden muss. Zur Internetfolklore gehören eine Menge Beobachtungsweisheiten, darunter auch "Hanlon's Razor" : "Schreibe nichts der Böswilligkeit zu, was durch Dummheit hinreichend erklärbar ist."

Aber leider ist wahrscheinlich, dass beim Staatstrojaner Bösartigkeit und Ahnungslosigkeit ähnlich ungünstig Hand in Hand gehen wie bei der Finanzkrise. Und es ist ähnlich schwer zu sagen, wo genau die Grenze verläuft, wer also noch zu den Ahnungslosen gehört und wer schon als bösartig bezeichnet werden muss. Der verantwortliche bayerische Innenminister Herrmann sagte im Interview, dass man sich immer an Recht und Gesetz gehalten habe: "Verstöße kann ich keine erkennen". Dieser Satz muss nicht gelogen sein. Ein Blinder wird immer glaubhaft beteuern können, er habe nichts gesehen. Wie ernüchternd und vertrauenzersetzend, wenn sich nicht ausschließen lässt, dass ein deutscher Innenminister aus Ahnungslosigkeit einen Verstoß gegen die Verfassung verantwortet hat.

Für Frank Rieger, Sprecher des CCC, spielt der tatsächliche Grund weniger eine Rolle als die Konsequenzen: "Das Vertrauen in die konkrete Fähigkeit der deutschen Behörden zur Grundgesetztreue ist drastisch erschüttert, das ist das Kernproblem." Die Staatstrojaneraffäre wird Folgen haben; es wird Rücktritte geben, weil es bei dieser verfassungsrechtlichen Tragweite Rücktritte geben muss: Wer späht, den bestraft das Leben.

Es lässt sich ohnehin nur schwer sagen, was besser wäre - die Verletzung des Grundgesetzes durch staatliche Stellen aus Naivität oder mit Absicht. Insofern ist der Staatstrojaner nur ein weiteres, besonders schmerzhaftes Fanal der digitalen Unfähigkeit im staatlichen Umfeld. Die Ahnengalerie ist ebenso prominent wie budgetintensiv besetzt: das digitale Polizeifunk-Debakel, das digitale De-Mail-Dilemma, das digitale Drama um den Elektronischen Entgeltnachweis ELENA.

In den USA und in China scheinen die besten Hacker im Auftrag der Behörden zu arbeiten, was immer man von deren Zielen auch halten mag. Die Digitalprodukte deutscher Behörden werden dagegen von Fachleuten regelmäßig verlacht. Der Staatstrojaner wirkt gegen den Stuxnet-Wurm wie ein defekter Tretroller bei einem Wettrennen gegen einen mit Kerosin betankten Ferrari. Wie soll eigentlich die anstehende Entwicklung einer Digitalen Demokratie jemals funktionieren, ohne die Substanz des Staates zu gefährden?

Der digitale Raum leidet in Deutschland unter grundsätzlicher Missachtung

Die Ursachen der digitalen Dysfunktionalität wichtiger Teilapparate des Staates sind vielschichtig. Mitentscheidend ist wahrscheinlich die ständige Verächtlichmachung gesellschaftlicher Aktivitäten im digitalen Raum, die in fast jede Diskussion hineinspielt. Soziale Netzwerke sind nur Spielerei, digitale Beziehungen sind weniger Wert als Offline-Bekanntschaften, wenn man länger surft, als man fernsieht, ist man internetsüchtig und die bisher gülden gleißende Hochkultur wird durch die Oberflächlichkeit pixeliger Blogger zersetzt. Und erst die vielen Widerrechtlichkeiten der Internetbenutzer. Beinahe muss man Politik und Administration in Schutz nehmen: Wem jeden Tag ein Pressespiegel ausgedruckt wird, in dem das Netz die Welt durch irrelevanten Unfug verschlechtert - der achtet vielleicht einfach nicht auf die Qualifikation des Praktikanten, der das Internet-Projekt betreut.

Deutschland leidet unter einer grundsätzlichen Missachtung des digitalen Raums. Es ist kein Zufall, dass hierzulande kaum relevante und keine reichweitenstarken Blogs unabhängig entstanden sind, während das US-Großblog Huffington Post  nach Seitenbesuchern doppelt so groß ist wie alle drei VZ-Netzwerke zusammen. Es ist kein Zufall, dass der deutsche Ebook-Markt praktisch inexistent ist.

Es ist kein Zufall, dass der Boom der Internetfirmen mit Unternehmenswerten bis in den dreistelligen Milliardenbereich hinein in Deutschland weitgehend daraus besteht, dass drei Brüder ein Startup nach dem anderen klonen. Es bleibt die anstrengende Hoffnung, dass die Zeit das ändern wird, denn Anzeichen für ein wachsendes Verständnis der digitalen Welt quer durch alle Bereiche und Altersschichten gibt es. Vielleicht muss man schmerzhafterweise einfach abwarten, bis der digitale Marsch durch die Institutionen wenigstens Leute dort hin spült, die nicht aus Versehen die Verfassung brechen.

tl;dr

Die digitale Ahnungslosigkeit von Politik und Administration gefährdet das Land. Gründe liegen auch in der deutschen Digitalfeindlichkeit.

Die Wiedergabe wurde unterbrochen.
Merkliste
Speichern Sie Ihre Lieblingsartikel in der persönlichen Merkliste, um sie später zu lesen und einfach wiederzufinden.
Jetzt anmelden
Sie haben noch kein SPIEGEL-Konto? Jetzt registrieren