S.P.O.N. - Die Mensch-Maschine Wo der Piratenschatz wirklich liegt
Die Suche nach den Gründen für den Erfolg der Piratenpartei bei der Berliner Abgeordnetenhauswahl begann am Wahltag um 18.01 Uhr. Die gesamte politische Klasse suchte an allen ihr logisch erscheinenden Orten: im Internet, in Berlin, im naiven Enthusiasmus der Nerd-Jugend. Weil bei politischen Suchen stets irgendetwas gefunden werden muss, wurden selbst- und quatschredend rasch Ergebnisse präsentiert.
Aber die wahren Gründe für den Piratenerfolg findet die deutsche Politik in einem handelsüblichen Badezimmerspiegel.
Clay Shirky beschrieb im Jahr 2010 einen grundsätzlichen Fehler der Debatte über Internet und Politik: Die Bedeutung des Zugangs zu Informationen werde überschätzt, die des Zugangs zu Menschen werde unterschätzt . Das war auf soziale Netzwerke in undemokratischen Staaten gemünzt. Es passt aber auch auf den Umgang der deutschen Parteien mit dem Netz. Denn das Internet verheißt eine nie gekannte, digitale Nähe zwischen allen und jedem. Eine Generation, die Britney Spears antwittern kann oder mit Coca Cola chatten, erwartet diese Nähe auch von der Politik.
"Näher am Menschen"
Die deutsche Politik hat das erahnt und umgehend auf dieses neue, digital geprägte Bedürfnis nach Nähe reagiert. Und zwar mit den ihr vertrauten Mitteln des 20. Jahrhunderts. Die CDU änderte ihren Werbeclaim auf "Näher am Menschen", und die Spitzenkandidaten ungefähr aller Parteien beauftragten ihre Mitarbeiter, unbedingt Social Media zu machen und diesen sensationellen Umstand per Fax der Presse zu verkünden. Als Ergebnis lässt die deutsche Politik mehr oder weniger sachkundige Kommunikationsagenturen digitale Nähe simulieren (mit dankenswerten Ausnahmen in allen Parteien). Aber ein Facebook-Dialog mit dem Presseteam eines Politikers ist im Schnitt so ergiebig wie ein Kaffeeplausch mit einer Sprechpuppe und genauso beliebt.
Umgekehrt ist bei der Piratenpartei die digitale Nähe zum Bürger, jedenfalls zum vernetzten Bürger, die Regel. Der Erfolg der Piraten beruht weniger auf dem Internet, sondern viel mehr darauf, was man mit dem Internet machen kann: direkte Verbindungen herstellen.
Dieser Erfolg besteht deshalb vor allem aus dem Problem der anderen Parteien. Und das ist ein Problem der Ansprache - und damit der Sprache selbst. Es ist ein außerordentlich schlecht gehütetes Geheimnis, dass die Sprache der Politik in einer schweren Verständlichkeitskrise ist. Das ist schon länger so, wie der große Alltagssoziologe Vicco von Bülow in seinem Werk "Die Bundestagsrede" bereits 1975 nachwies. Nun hat das Internet die Möglichkeit neu gegeben, die Sprache zwischen Politik und Bürger dem echten Leben anzupassen. Und nur die Piraten nutzen diese Möglichkeit konsequent. Sie haben daraus sogar eine Kommunikationshaltung über alle Medien hinweg entwickelt.
Eingestandenes Unwissen wirkt kompetenter als entlarvtes Unwissen
Der oft gehörte Vorwurf der Unprofessionalität der Piraten bezieht sich auf Antworten wie: "Davon habe ich keine Ahnung, aber ich werde mich einarbeiten." Dieser Satz ist in einem Alltagsgespräch das Ehrlichste und Konstruktivste, was man in der entsprechenden Situation sagen kann. Politisch ist er außerhalb der Piratenpartei kaum vorstellbar. Denn die Sprache der Politik hat bekannterweise mit dem Alltag nichts mehr zu tun, sondern ist zur Inszenierung geronnen, die kampftaktisch funktionieren soll: als Schutz gegen Angriffe anderer Parteien und der Medien sowie als Durchhalteparole für die eigenen Truppen.
Aber in einer Zeit, in der sich sämtliche Wahlergebnisse seit Christi Geburt in Sekunden recherchieren und in den richtigen Kontext setzen lassen, ist nach einer verlorenen Wahl eine Behauptung wie "Eigentlich haben wir gewonnen!" fatal. Sie wirkt nicht einmal mehr wie eine Lüge, sondern wie eine besonders bekloppte Form des Realitätsverlusts, die zusätzlich den Empfänger für dumm hält. Die Piraten stehen für eine politische Sprache, die im Netz geboren ist: Dort gibt es immer einen Kommentator, der seine zweite Doktorarbeit zum diskutierten Thema geschrieben hat und sich besser auskennt. Und eingestandenes Unwissen wirkt sympathischer und sogar kompetenter als entlarvtes Unwissen, das haben die intelligenteren der im Netz sozialisierten Leute schnell gelernt.
Barack Obama, dem politische Kommunikation oft besser zu gelingen scheint als Politik, hat den Wunsch nach netztypischer Offenheit samt zugegebener Unzulänglichkeit erkannt. Bei der fehlgeschlagenen Besetzung eines wichtigen Regierungspostens sagte er 2009 in einem TV-Interview: "Ich hab's total verbockt - das sage ich hier im Fernsehen, und das ist Teil der Ära der Verantwortung." Knapper lässt sich der Zusammenhang zwischen offener, nachvollziehbarer Kommunikation und politischer Verantwortung kaum verdichten.
Protestwahl gegen die ritualisierte Künstlichkeit einer Politik
Angela Merkel würde vermutlich eher eine piratentolerierte Koalition von CDU und Linkspartei befürworten als in der Tagesschau sagen: "Das mit dem Euro, das habe ich total verbockt." Die konkurrenzlos lebensnahe Ansprache samt digitaler Ansprechbarkeit beflügelt den Erfolg der Piraten. Das wirkt zwar nur im Kontrast zu den anderen Parteien, denn die hohe Nerd-Dichte führt zu einer gewissen sozialen Unbeholfenheit in der Kommunikation. Aber der Nerd in der Hand ist näher als der Polit-Profi auf dem Dach.
Aus diesem Grund handelt es sich bei den neun Prozent in Berlin in der Tat um Protestwähler - Protest gegen die ritualisierte Künstlichkeit einer Politik, deren Kommunikation sich in den Augen vieler Bürger reduziert hat auf Talkshows, fernsehtaugliche Hauptsätze und Pressemitteilungen, die zu den nichtssagendsten Schriftstücken seit Entdeckung des Voynich-Manuskripts gehören. Es ist ein substantieller und deshalb gefälligst ernst zu nehmender Protest gegen den herrschenden Politikstil insgesamt und seine Folgen wie den erwähnten Realitätsverlust.
Die anderen Parteien können und müssen von den Piraten lernen, nicht nur Netzpolitik zu machen, sondern auch Politik mit dem Netz. Und das heißt, sich ohne Anbiederung auf die Sprache des Internets einzulassen - die entgegen des kulturkritischen Vorurteils ungefähr der Sprache des normalen Alltags entspricht. 1999 wendeten sich vier Internet-Vordenker um David Weinberger mit dem heute noch immer wegweisenden Cluetrain-Manifest gegen die künstliche Kommunikationskultur der Unternehmen. Die erste These lautet: "Märkte sind Gespräche." Wenn die Politik nicht vom Netz überrollt werden möchte, sollte sie sich daran erinnern, dass nicht nur Märkte Gespräche sind, sondern die ganze Gesellschaft.
tl;dr
Der Wahlerfolg der Piraten zeigt die fehlende digitale Nähe der anderen Parteien, deren Ansprache und Sprache im Netz nicht funktionieren.
Offenlegung:
Der Autor ist Mitglied keiner Partei, aber steht der SPD emotional nahe.