S.P.O.N. - Die Mensch-Maschine Was hat die Krise mit dem Netz zu tun?

Wo findet man Antworten auf alles? Loriot nutzte ein Konversationslexikon, heute gibt es das Internet. Nun kann das Netz die dringlichste Frage beantworten: Was kommt nach der Euro-Krise? Eine bessere, digitale Demokratie.

Was erschien eigentlich am 12. September 2001 im Sportteil der Tageszeitungen? Oder anders gefragt: Wenn ein tollwütiger Gorilla im Raum ist, wie redet man dann über etwas ganz anderes? Der Gorilla ist natürlich die Euro-Krise, die derzeit selbst aus netzeuphorischer Sicht eine Idee existentieller daherkommt als zum Beispiel die Weiterentwicklung der Kommentarfunktionen von Facebook.

Aber selbst Leute*, die noch bei jeder nicht zurückgegebenen Pfandflasche fragen, wie das jetzt wieder mit dem Netz zusammenhängen könnte, ziehen auf den ersten und auch auf den zweiten Blick keine Verbindung zwischen Euro-Krise und Internet. Gut, der Hochfrequenzhandel von Finanzprodukten, dem einige Experten eine Teilschuld an ungefähr allem geben, funktioniert über vernetzte Plattformen. Aber sonst?

Loriot erzählte einmal , dass Kürschners Universalkonversationslexikon für gebildete Stände sein Lieblingsbuch gewesen sei. Vermutlich hat er zwei Titel durcheinandergebracht, den Kürschner und Brockhausens Conversations-Lexicon oder enzyclopädisches Handwörterbuch für gebildete Stände. Aber das Universalkonversationslexikon war mit Sicherheit nicht nur Loriots Lieblingsbuch, denn es war eine sehr frühe Frühform des Internet. Es beinhaltete neben dem umfangreichen Lexikonteil Informationstafeln aller Art, Geschichtsabrisse, Karten, händisch abgezeichnete Fotos bekannter Leute sowie Hundebilder, die Vorläufer der heutigen Katzenbilder. Und es funktionierte mit Verweisen. Nicht nur innerhalb des Lexikons, sondern auch darüber hinaus.

Viele Einträge wurden ergänzt durch Verweise auf Quellen und weiterführende Literatur: "Bodensee, Schwäbisches Meer. […] Lebhafte Schiffahrt. Reich an Fischen. Friert selten zu. Vgl. Schlatterer, "Die Ansiedlungen am Bodensee." 1891. Benck 1902." Natürlich steht auch Europa in diesem frühen Internet drin: "Europa, kleinster Erdteil (9.913.400 qkm) der Alten Welt, vermöge seiner geistig. Kultur wichtigster Teil der Erde". Es handelt sich um die Kürschner-Ausgabe von 1926, und Eurozentrismus war damals der Nationalismus des liberaleren Teils der gebildeten Stände.

Der Eurozentrismus war für viele eine praktische Angelegenheit, weil sich so das Gefühl einer gewissen Weltoffenheit verbinden ließ mit Teilaspekten von Rassismus und Xenophobie, im Prinzip also wie heute auch noch. Abseits des Superlativs ist Kürschners Definition allerdings aus purem Gold. Insbesondere durch die wunderschöne Präposition "vermöge", die abstammt von "Vermögen". Und um das geht es in der Euro-Krise ja doppelt: um Vermögen (Geld) und um vermögen (die nötige Kraft aufbringen).

Es ist nicht einfach zu sagen, was genau gerade passiert und wie es enden wird. Ob es enden wird. Noch ist davon in Deutschland nicht viel zu spüren, aber in anderen europäischen Ländern implodiert gerade ein Teil der Zivilgesellschaft: Nationalsozialisten im Parlament, Plünderungen aus schierer Not, Jugendarbeitslosigkeit über 50 Prozent . Es ist dort und infolgedessen auch hier an der Zeit zu fragen, was danach kommt. "Danach" muss nicht zwingend "nach dem großen Crash" heißen. "Danach" kann auch "bei der ersten verdammten Gelegenheit" bedeuten.

Die Euro-Krise ist in erster Linie eine politische Krise und erst deshalb und danach eine Finanzkrise, das Debakel ist ein politisch produziertes. An dieser Stelle grätscht zunächst Kürschner hinein, denn in der Krise wird jeden Tag ein bisschen mehr vergessen: Europa ist nicht Europa für seine Wirtschaftskraft und seine Finanzmärkte. Europa ist Europa vermöge seiner verdammten geistig. Kultur. Also soll es seine verdammten Europaprobleme vermöge dieser Eigenschaft lösen. Aber wie?

Der richtige Zeitpunkt zum Reden

Die geistig. Kultur und damit die Stärke Europas ist der Diskurs, die Diskussion, das Gespräch in allen Farben und Formen, die Macht des "Lasst uns darüber reden". Die politische Krise ist auch eine Legitimationskrise der Regierungsaktivitäten samt Abnickparlamentarismus, und deshalb ist jetzt, genau jetzt, der richtige Zeitpunkt für eine Diskussion über die Weiterentwicklung der Demokratie. Und an dieser Stelle grätscht - spät, aber doch immerhin - das Internet in die Euro-Krise, und zwar in Form von Island. Oder genauer: Das Internet grätscht in die notwendigen Aufräumarbeiten nach der Euro-Krise, was ja aber erfahrungsgemäß auch vor der Euro-Krise ist.

Obwohl Island so viele Einwohner hat wie Neukölln, der fünftgrößte Bezirk von Berlin, spielten bis 2008 die privatisierten, isländischen Banken auf dem Finanzplatz mit den großen Kindern. Dann kam die Bankenkrise, und Island stürzte ab. Die isländische Krone verlor über 40 Prozent an Wert, die Staatsschulden verdoppelten sich fast. In einem Land mit 320.000 Einwohnern kennt jeder jemanden, der jemanden in der Regierung kennt, und diese liebenswerte Form des sozialen Drucks hat dazu geführt, dass das Volk schon nach der ersten Krise 2008 beschloss: Es möge eine neue Verfassung geben . Und zwar explizit eine Verfassung, die eine erneute Perversion der Finanzwirtschaft verhindern möge.

Wie es zur weltweit ersten Social-Media-Verfassung kam

Die neue Verfassung aber sollte in der Besinnung auf die geistig. Kultur unter diskursiver Mitwirkung des Volkes selbst entstehen  . Angesichts der Tatsache, dass von zehn Isländern sieben auf Facebook sind, integrierte man die Kommentarmöglichkeiten des Netzwerks in den Prozess der Verfassungsschreibung. Und so bekommt Island bald die weltweit erste Social-Media-Verfassung, wegen der und gegen die Finanzkrise. Voraussichtlich jedenfalls, denn auch in Island gibt es mächtige Feinde dieser neuen Verfassungsgebung, zum Beispiel, weil Instrumente direkter Demokratie und die Macht des Parlaments darin betont werden - und zwar explizit die Macht gegenüber der Regierung.

Wieder wird Island zum politischen Vorbild, denn während die Demokratie in Athen entstand, liegen die Wurzeln des Parlamentarismus im 930 gegründeten, isländischen Althing . Die akute Euro-Krise und wohl auch ihre Lösung mag wenig mit dem Internet zu tun haben. Aber was danach kommt, hat sehr wohl mit dem Netz zu tun, denn es kann nach Art des europäischen Hauses nur aus der politischen Diskussion entstehen. Vor hundert Jahren hätte es sich vermutlich um eine Revolution gehandelt, heute ist wahrscheinlicher und wünschenswerter: die Weiterentwicklung der parlamentarischen Demokratie, die eine Digitale Demokratie sein wird. Und sie beginnt mit einer Diskussion. Kürschner: "Parlament , vom lat. parlare, sprechen, reden".

tl;dr

Die Krise Europas muss als Gelegenheit zur Diskussion über die parlamentarische, Digitale Demokratie verstanden werden.

Anmerkung: *ich

Die Wiedergabe wurde unterbrochen.
Merkliste
Speichern Sie Ihre Lieblingsartikel in der persönlichen Merkliste, um sie später zu lesen und einfach wiederzufinden.
Jetzt anmelden
Sie haben noch kein SPIEGEL-Konto? Jetzt registrieren