
S.P.O.N. - Die Mensch-Maschine Der Lügner als Zeuge

Etwas verloren inmitten eines Presseartikels, etwa über die Ukraine, steht ein Halbsatz, ein Drittelsatz. Er ist nicht neu, seit Jahrzehnten ist er Teil der Medienlandschaft. Aber seit einem Jahr hat er eine neue Dimension: "…nach geheimdienstlichen Erkenntnissen". Dahinter verbirgt sich ein erhebliches Problem des durchgedrehten, radikalisierten Überwachungsapparats.
Wie wichtig die Meinung der Öffentlichkeit für die Politik ist, gerade für die Weltpolitik, lässt sich schon am unbestritten ungeheuren Aufwand erkennen, den Regierungen betreiben, um die öffentliche Meinung zu beeinflussen. Konflikte sind immer auch und manchmal zuvorderst Propagandaschlachten, das ganze Genre der Propaganda wäre sinnlos, wenn die Meinung der Öffentlichkeit wirklich egal wäre. Im Fall des Ukraine-Konflikts zeigt sich mustergültig, in welches Debakel sich Geheimdienste durch die Totalüberwachung und ihren Umgang damit manövriert haben - völlig unabhängig von den Dingen, die dort tatsächlich geschehen*.
Die US-Regierung präsentierte am 28. Juli "Beweise" für russische Raketenschüsse auf ukrainisches Gebiet - "nach Erkenntnissen des Geheimdienstes". Erkenntnisse desjenigen Geheimdienstapparats, der wieder und wieder gelogen hat. Nicht nur die Öffentlichkeit belog, sondern nachweislich auch die Politik. Ein Behörden-Konzerne-Filz, der, wie Edward Snowden offenbarte, sich nicht um Gesetze, Regeln, Verträge schert und diese Zustände mit allen Mitteln versucht zu verschleiern. Und jetzt möchte ebendieser Späh- und Täuschungsapparat, dass die Öffentlichkeit ihm seine "Erkenntnisse" glaubt und seine "Beweise" für stichhaltig hält. Ein notorischer Lügner als Zeuge.
Nährboden für Verschwörungstheorien
Natürlich sind Lügen von Anbeginn Teil der Politik, gerade in Konfliktsituationen. Aber nie zuvor war der mediale Part von Konflikten wichtiger als heute. Und weil ein sehr relevanter Teil der Informationen für diesen Medienkrieg durch Geheimdienste beschafft wird, ergibt sich eine paradoxe Situation: Die am wenigsten vertrauenswürdigen Apparate präsentieren Informationen, denen doch bitte geglaubt werden soll.
Die Totalüberwachung normaler Bürger hat die eigentliche Aufgabe der Geheimdienste in Konfliktsituationen beschädigt: Ein Foto, das die NSA schießen konnte? Oh, really? Ein Film des GCHQ? Riesenbrüller. Eine Tonaufnahme des BND? Wer? Soll? Das? Noch? Glauben?
Geheimdienste weltweit fangen an, den Preis zu erahnen, den ihre Spähradikalität mit sich bringt: Information braucht Vertrauen. Die Organisationen, die das digitale Vertrauen vollständig zerstörten - sie sind selbst auf Vertrauen angewiesen. Und zwar letztlich auf Vertrauen genau der Öffentlichkeit, die sie flächendeckend ausspähen. Snowden hat gezeigt, dass Geheimdienste unbescholtene Bürger generell als Verdächtige begreifen. Und damit als eine Vorstufe von Gegnern.
Eine fatale Situation, die einen besseren Nährboden für Verschwörungstheorien darstellt, als sich Echsenmenschen und Hohlweltler je selbst erträumen konnten. Das Ergebnis lässt sich zum Thema Ukraine in den sozialen Medien betrachten: Geheimdienste müssten hart daran arbeiten, das in sie gesetzte Vertrauen wieder hoch auf null zu bekommen, quer durch die Bevölkerung.
Glaubwürdigkeit verspielt
Aber das Handeln - gerade auch der deutschen Verantwortlichen - trägt nicht dazu bei, auch nur den Funken der Idee eines Anflugs von Vertrauen zurückzugewinnen. Im Gegenteil. Hans-Georg Maaßen, Verfassungsschutzpräsident, gab in der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung" ("FAZ") vom 28. Juli ein Interview zu den Snowden-Enthüllungen. Das wäre nicht weiter schlimm, wenn er dem "Handelsblatt" am 29. Januar nicht auch schon ein Interview zum gleichen Thema gegeben hätte.
"Handelsblatt", 29. Januar 2014: "Der Verfassungsschutzpräsident hält viele Vorwürfe für falsch."
"FAZ", 28. Juli 2014, Maaßen: "Durch die Snowden-Veröffentlichungen ist deutlich geworden, was alles möglich ist und was die amerikanischen Behörden tun."
Maaßen, Januar: "Die Dokumente des NSA- Enthüllers Snowden sind voller Hinweise, aber ohne Beweise."
Maaßen, Juli: "Bei der Spionageabwehr haben wir es nicht selten mit Hinweisen zu tun, wirkliche Beweise fehlen uns oft."
Maaßen, Januar: "Wir gehen nach wie vor davon aus, dass sich die Amerikaner in Deutschland an deutsches Recht halten."
Maaßen, Juli: "Wenn aber die Amerikaner in Deutschland Datenleitungen anzapfen oder gar menschliche Quellen führen, verstoßen sie gegen deutsches Recht. Da sage ich: Jetzt ist das Maß voll, das können wir nicht akzeptieren."
Entweder ist Hans-Georg Maaßen in der Zwischenzeit wie so viele Politiker ja auch durch einen Echsenmenschen ersetzt worden - oder den Juli-Maaßen interessiert die Glaubwürdigkeit des Januar-Maaßen nicht im Geringsten. Er bietet keine Erklärung an für seine Kehrtwenden und gegenläufigen Einschätzungen, schlimmer noch: Er tut so, als hätte es sie gar nicht gegeben. Das ist nicht bloß das Adenauer'sche "Was kümmert mich mein Geschwätz von gestern", es ist viel mehr: die Aufkündigung des Pakts mit der wahlberechtigten Öffentlichkeit, irgendwie ja doch an einer gemeinsamen Sache zu arbeiten. So viel zum Thema "Geheimdiensterkenntnisse".
Die NSA ist da schon weiter: Sie sucht via LinkedIn einen Pressesprecher. Vermutlich müssen sich Interessenten gar nicht mehr aufwendig bewerben, die Erwähnung des Vorhabens in einer beliebigen E-Mail dürfte ausreichen. Und sämtliche Lebensläufe liegen der NSA ja auch längst vor. Die gewünschten Eigenschaften: Der Pressesprecher soll "optimistisch und hartnäckig bleiben" und sich "schnell von Rückschlägen erholen". Das sind also nach Ansicht der NSA die Eigenschaften, die man braucht, um im Jahr 2014 der Öffentlichkeit noch geheimdienstliche Erkenntnisse zu präsentieren.
tl;dr
Der Preis der Totalüberwachung: Die Behörden, die das digitale Vertrauen zerstörten, brauchen Vertrauen für ihre eigentlichen Aufgaben.
*Anmerkung des Autors: Ich verfüge über keinerlei belastbares Wissen zum Ukraine-Konflikt und werde daher hier nichts darüber schreiben, was über die Betrachtung des reinen Mediengeschehens hinausgeht.