Debatte um Peilsender in Schultaschen Der Spion im Ranzen
Wäre es nicht beruhigend, wenn man stets wüsste, wo das eigene Kind gerade steckt? Lassen sich Schulwege nicht sicherer machen, wenn Kinder stets Handy oder GPS-Sender bei sich tragen und Autofahrer sich eine passende App installieren? Und wie intensiv dürfen Schulen und Unternehmen kooperieren? Über solche Fragen wurde in Wolfsburg in den vergangenen Tagen heftig diskutiert - so sehr, dass der Start eines Pilotprojekts mit sogenannten Schutzranzen nun, nach Protesten von Datenschützern, erst einmal verschoben wurde.
Das Projekt mit den Schutzranzen ist nicht neu : Die Handys von Schülern oder Sender an deren Schultaschen sollen etwa einen Autofahrer per App oder - so die Theorie -künftig auch über das Bordsystem warnen, wenn ein Kind in der Nähe ist und ihnen womöglich vors Auto laufen könnte. Auch sollen Eltern über ihr Smartphone jederzeit ihr Kind orten können - oder zumindest die Tasche ihres Kindes. Zusätzlich gibt es eine SOS-Funktion für die Kinder und die Möglichkeit, Notfallnachrichten an ausgewählte Personen zu verschicken.

Grafik von Schutzranzen
Foto: schutzranzen.comCoodriver heißt das Start-up hinter Schutzranzen. Beim nun aufgeschobenen Pilotprojekt an zwei Wolfsburger Grundschulen ist die Wolfsburg AG der Partner, ein Gemeinschaftsunternehmen von Stadt und Volkswagen: Außer mit Kontakten zur Stadt unterstützt die Wolfsburg AG das Projekt mit 15.000 Euro.
In Ludwigsburg ist ebenfalls ein Pilotprojekt in Vorbereitung
Als Sponsoren der Schutzranzen-Initiative sind auf der Projekt-Website zudem der Automobilclub von Deutschland (AvD), Uvex und der Schulranzen-Hersteller Scout aufgeführt - Letzterer hat allerdings nach Informationen der Bürgerrechtler von Digitalcourage die Zusammenarbeit offenbar bereits im vergangenen Jahr beendet.
Ebenfalls als Sponsor aufgelistet ist die Stadt Ludwigsburg, in der ebenfalls ein Testprojekt wie in Wolfsburg geplant ist. Ein Sprecher der Stadt teilte SPIEGEL ONLINE mit, die Stadt unterstütze Coodriver seit September 2017 bei der Einführung von Schutzranzen in Ludwigsburg. Man wolle nun alle Beteiligten "an einen runden Tisch" bringen, um Bedenken zu diskutieren.
Volkswagen bezeichnet die Kooperation mit Coodriver in einer Pressemitteilung von 2016 als "strategische Partnerschaft, die Autofahrern helfen soll, Kinder im Straßenverkehr rechtzeitig zu erkennen und so Gefahrensituationen zu vermeiden". Die neue Anwendung solle demnach bald in neue Volkswagen-Modelle integriert werden, hieß es damals noch.
Dieser Stand ist mittlerweile überholt, teilt das Unternehmen nun mit: "Die interne Bewertung der App Schutzranzen hat ergeben, dass eine Integration bei Volkswagen nicht vorgenommen wird. Die Bewertung ist bereits vor einiger Zeit abgeschlossen worden und unabhängig von der aktuellen Diskussion." Grundsätzlich teste VW solche Technologien aber weiter.
Bevor das Schutzranzen-System mit Schülern in Wolfsburg getestet wird, sollen jetzt Bedenken geprüft und geklärt werden, so die Wolfsburg AG. Oder, wie es Coodriver-Chef Bobby Hildebrandt ausdrückt: "Wenn sich alles wieder etwas beruhigt hat, machen wir weiter." Dann, so der Plan, können Eltern und Kinder der zwei Grundschulen - freiwillig und kostenlos - Tracker und App ausprobieren.
Stetiges Tracking für 75 Euro im Jahr
Normalerweise kostet ein "Schutzranzen Tracker-Paket" laut Website 75 Euro pro Jahr, dazu kommt eine einmalige Aktivierungsgebühr von 19 Euro. Der Tracker selbst wird an die Nutzer nur verliehen und richtet sich etwa an Kinder, die kein Smartphone haben. Die App kann sich jeder installieren, er bekommt dann etwa Schulen im Umkreis angezeigt und eine Benachrichtigung, wenn ein Kind mit Schutzranzen in der Nähe ist.
Deutschlandweit wurden laut Hildebrandt bereits mehrere Tausend Tracker verkauft, die App wurde seiner Einschätzung nach mehrere Zehntausend Mal heruntergeladen. Allzu wichtig seien ihm die Zahlen aber nicht, meint der Firmenchef, da man für das System zunächst eine "regionale Verbreitung aufbauen" wolle und dabei städteweise vorgehe.
Leicht dürfte es jedoch nicht werden, alle Beteiligten von dem System zu überzeugen. Eine Lehrkraft einer Wolfsburger Schule etwa sagt, Firmen wie Volkswagen hätten an Schulen nichts verloren. Und auch das Konzept Schulranzen als solches überzeugt sie nicht: "Ich trau der ganzen GPS-Sache nicht", sagt sie. "Der Hersteller sagt zwar, die Daten würden nur kurz in einer Cloud gespeichert und schnell wieder gelöscht. Ich kann aber nicht überprüfen, ob das stimmt."
Es gibt nicht nur Ranzen-Tracker. Unsere Fotostrecke zeigt, mit welchen GPS-Geräten Eltern ihre Kinder noch überwachen können:

GPS-Tracker für Kinder: Volle Kontrolle
Datenschutzbeauftragte bezweifelt, dass Positionsdaten anonym bleiben
Datenschützer sehen das ähnlich, sie kritisierten das Projekt daher scharf: Die Bürgerrechtsorganisation Digitalcourage kommentierte auf ihrer Webseite : "Die Datenweitergabe wird alles andere als transparent kommuniziert - Facebook, Microsoft, Amazon und Co. bekommen Daten." Eltern und Lehrer würden nicht hinreichend über die Datenweitergabe informiert.
Zu den Vorwürfen von Digitalcourage nimmt der Schutzranzen-Hersteller auf seiner Webseite ausführlich Stellung : Er erklärt dazu, es würden "nur anonymisierte Kontakte zu anderen Servern stattfinden, durch die keine persönlichen Daten übermittelt werden". Die Datensicherung werde jetzt aber noch mal vom technischen Team der Firma auf Mängel überprüft.
Die niedersächsische Datenschutzbeauftragte Barbara Thiel bezweifelte gegenüber dem Tech-Portal "Heise" , dass die Positionsdaten der Kinder nur anonym in die Cloud übermittelt werden, da bei der Nutzung immer auch die IP-Adresse übermittelt werde und damit von einem möglichen Personenbezug auszugehen sei. Auch die Funktion für die Eltern erlaube ja eine eindeutige Zuordnung der Positionsdaten zu einem Kind.
"Eine Erziehung zu Freiheit und Mündigkeit geht nicht unter ständiger Kontrolle"
Allerdings wären die Aktivisten von Digitalcourage auch dann gegen das Projekt, wenn die Daten völlig anonym blieben, schreiben sie in einem Blogeintrag: "Eine Erziehung zu Freiheit und Mündigkeit geht nicht unter ständiger Kontrolle durch die Eltern."

Auch die Lehrkraft der Wolfsburger Schule wünscht sich einen generellen Verzicht auf kleine Sender in Schultaschen: "Ich finde, Kinder können auch so erzogen werden, dass sie ohne Überwachung aufwachsen", sagt sie.
Nur noch die Hälfte aller Schüler geht selbst zur Schule
Entgegen kommt den Schutzranzen-Machern derweil, dass viele Eltern ihren Kindern offenbar nicht mehr zutrauen, den Schulweg allein zu meisten. Laut einer ADAC-Studie machen sich nur etwa 50 Prozent der Schüler eigenständig auf den Weg zur Schule, vor 40 Jahren waren es noch über 90 Prozent. Und das, obwohl die generelle Zahl der tödlichen Unfälle im Straßenverkehr - gerade bei Kindern - gesunken ist. Im Werbevideo für die Schutzranzen wird allerdings eher noch einmal mit Nachdruck darauf hingewiesen, wie gefährlich der Schulweg für Kinder ist und wie viele dabei ums Leben kommen.
Viele Eltern fahren ihre Kinder sicherheitshalber mit dem Auto zur Schule. Dass morgens jedoch so viele Eltern im Auto unterwegs sind, macht die Schulwege laut Verkehrsexperten noch gefährlicher. Und die Kinder lernten so erst recht nicht, wie sie sich sicher im Straßenverkehr verhalten. Experten empfehlen daher, jüngere Kinder in der Gruppe zusammen zur Schule laufen zu lassen, am Anfang gern noch begleitet von Erwachsenen.
Wie und wann genau es in Wolfsburg mit dem Schutzranzen-Projekt weitergeht, war zuletzt noch unklar. Die Firma Coodriver wehrte sich in einer weiteren Stellungnahme noch einmal gegen die Vorwürfe von Datenschützern: "Es ist nicht unsere Absicht, Kinder zu tracken, sondern lediglich vor ihnen warnen zu können", hieß es darin, und: Es werde mit viel Halbwissen gegen das Projekt argumentiert.
SPIEGEL ONLINE hat sich ein Testgerät bestellt. So können wir uns einen Eindruck von der technischen Umsetzung verschaffen und demnächst hier darüber berichten.
Anmerkung der Redaktion: Der Text wurde um das Statement von Volkswagen erweitert, dass die Technologie nun doch nicht in Fahrzeuge integriert werden soll. Außerdem wurde eine Stellungnahme der Stadt Ludwigsburg ergänzt.