Spähoffensive in Großbritannien Queen erteilt Lizenz zum großen Schnüffeln
Noch immer ist der Brexit das beherrschende Thema, wenn über Großbritannien geschrieben wird. Doch im Trubel der andauernden Europa-Diskussion ist auch ein Gesetz verabschiedet worden, das für die Briten ähnliche gravierende Folgen haben könnte wie ein Bruch mit der EU: Das Parlament hat ein Überwachungsgesetz mit dem Titel Investigatory Powers Bill (IP Bill) abgesegnet, das auch unter der spöttischen Bezeichnung Snooper's Charter bekannt ist, als Lizenz zum Schnüffeln. Wie die Nachrichtenagentur AP am Dienstag berichtet, hat das Gesetz nun auch die formale Zustimmung des Königshauses, die bisher noch fehlte.
Das Gesetz hat eine massive Vorratsdatenspeicherung zur Folge. Der Staat hat mit der Snooper's Charter so viel Macht über die Daten der Bevölkerung wie kaum ein anderes Land. Die deutsche - hierzulande heftig umstrittene - Vorratsdatenspeicherung - wirkt gegen das britische Pendant deutlich weniger massiv.
Vergangenes Jahr hatte die damalige Innenministerin Theresa May den Entwurf für das Spähprogramm vorgelegt. Immer wieder wurde der Antrag verworfen, immer wieder wurden Nachbesserungen gefordert. Mitte November hat das britische Parlament das Gesetz nun auf den Weg gebracht - zum Entsetzen von Kritikern wie Datenschützern. Auf den mehr als 300 Seiten des IP Bill (PDF) würden die Überwachungsmethoden einer Diktatur beschrieben, schimpfen sie.
Wir haben zusammengetragen, was Sie über das IP Bill wissen müssen:
Welche Daten werden in Großbritannien gesammelt?
Sofern sich die britischen Bürger nicht technisch schützen, kann die Regierung künftig herausfinden, welche Pornoseiten sie besuchen, ob sie auf illegalen Streaming-Websites unterwegs sind und bei welcher Online-Apotheke sie Medikamente bestellen. Die Provider werden nämlich verpflichtet, Informationen darüber zu speichern, welche Websites ein Nutzer besucht hat. Aufgezeichnet werden die Domain-Namen, ohne exakte Unterseiten - die Informationen bleiben dafür aber ein Jahr lang gespeichert. Außerdem zeichnen die Telefonkonzerne auf, mit welchen Apps Kunden kommunizieren.
Die Inhalte einzelner Nachrichten werden nicht gespeichert. Allerdings verraten Metadaten und Website-Besuche meist mehr über einen Menschen, als dieser ahnt. Aus den Daten lässt sich etwa leicht ablesen, wo die Person lebt, wo sie arbeitet, was ihre Hobbys und Sorgen sind und mit welchen anderen Personen sie kommuniziert.
Wer darf auf die Daten zugreifen?
An den erfassten Daten sind zum Beispiel der britische Geheimdienst GCHQ und die Polizei interessiert. Doch es sind knapp 50 Behörden, die auf das Surfverhalten der Nutzer zugreifen dürfen , darunter die britische Militärpolizei, das Gesundheitsministerium und die Glücksspielbehörde.
Eine Expertenkommission aus ehemaligen und amtierenden Richtern, die so genannten Judicial Commissioners, sollen die Anträge prüfen und dafür sorgen, dass die Spähmethoden nicht missbraucht werden. Die Richter sind zwar unabhängig, werden aber vom amtierenden Premierminister ernannt.
Welche weiteren Möglichkeiten bringt das Gesetz Ermittlern?
Die Polizei darf mit dem Gesetz nun ganz offiziell Computer infiltrieren und Smartphones hacken, um Hinweisen zu mutmaßlichen Straftätern nachzugehen. Die Beamten haben beispielsweise die Erlaubnis, Trojaner zu installieren, um die Aktivität der überwachten Nutzer zu protokollieren und Tastatureingaben mitzulesen.
Sind Daten zu stark verschlüsselt, sollen Onlinekonzerne dazu gezwungen werden können, kodierte Nachrichten lesbar zu machen. Mit dem Gesetz können Unternehmen auch aufgefordert werden, in Software und technische Geräte wie Smartphones eine Hintertür einzubauen, um Behörden den Zugriff zu erleichtern.
Was kritisieren Bürgerrechtler an dem Gesetz?
Bürgerrechtler und Datenschützer wehren sich massiv gegen die Snooper's Charter. Sie befürchten, dass das Spähprogramm die freie Meinungsäußerung bedroht und die Privatsphäre aushebelt. Ebenso könnte es ihrer Ansicht nach ein Freibrief für totalitäre Staaten sein, die Großbritannien als europäisches Beispiel vorschieben könnten.
Jim Killock, Chef der britischen Bürgerrechtsorganisation Open Rights Group, bezeichnet das Gesetz als "eines der extremsten Überwachungsgesetze, die je in einer Demokratie verabschiedet wurden". Auch wenn Parteien wie die Liberalen Demokraten und die Grünen versucht haben, die Maßnahmen abzuschwächen, sei die Vorlage nach drei Anläufen nur noch schlimmer geworden. "Das Gesetz ist immer noch eine Bedrohung für das Recht auf Privatsphäre", sagt Killock.
Doch nicht nur in Großbritannien stößt das Gesetz auf Widerstand. Überall auf der Welt kritisieren Experten die Überwachungsoffensive. Der Whistleblower Edward Snowden etwa warnte schon vor einem Jahr bei Twitter , dass die Snooper's Charter die Massenüberwachung legitimiere. "Das ist das aggressivste und am wenigsten kontrollierbare Überwachungssystem im Westen", schrieb Snowden.
Auch der Journalist und Science-Fiction-Autor Cory Doctorow sieht eine Gefahr für das Land: "Wir sind einen Klick von einem totalitären Staat entfernt", schrieb Doctorow auf dem Blog "BoingBoing" . Tim Berners-Lee, der als Erfinder des World Wide Webs gilt, kommentierte die Verabschiedung des Gesetzes mit "Dunkle, dunkle Tage ".
Was bedeutet das Gesetz für Bürger in anderen EU-Ländern?
Schon in der Vergangenheit konnte es leicht passieren, dass eigene Daten zum Beispiel beim britischen Geheimdienst GCHQ landen - etwa, weil sich der GCHQ in zahlreiche wichtige Glasfaser-Verbindungen eingeklinkt hat.
Mit dem Überwachungsgesetz bekommen britische Ermittler jetzt gesetzlichen Rückenwind. Wer im Ausland ins Fadenkreuz der Ermittler gerät, darf künftig viel schneller überwacht werden, fasst "Wired" die Folgen der Regelung zusammen. Das gilt auch für Deutschland.
Wenn etwa terroristische Aktivität in einer bestimmten Region vermutet wird, dann dürfen auch Rasterfahndungen durchgeführt werden. Das bedeutet, dass zahlreiche unschuldige Bürger in einem Gebiet überwacht werden könnten, wenn sich dort auch nur eine verdächtige Person aufhält oder wenn ein Verbrechen verübt worden ist.
Der IT-Anwalt Niko Härting geht davon aus, dass Gegner rechtlich gegen das IP Bill vorgehen werden. "Vor dem Europäischen Gerichtshof hätte das Gesetz keine Chance", sagt Härting gegenüber SPIEGEL ONLINE. Der Anwalt meint, in Deutschland wäre ein so weitreichendes Spähprogramm wie in Großbritannien nicht denkbar: Der Bundesgerichtshof würde die Snooper's Charter seiner Meinung nach nicht zulassen.
Kann das Gesetz noch gestoppt werden?
Stand Dienstag kommt eine Online-Petition gegen das Spähprogramm auf über 133.000 Unterschriften, aus diesem Grund muss sich das Parlament bald noch einmal mit dem Gesetz befassen. Das heißt aber nicht unbedingt, dass das Gesetz noch gestoppt wird.