Streit über Web-Filter Vernunft siegt über Internetsperren

Bundesjustizministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger: Sperrgesetz gekippt
Foto: DDPBerlin/Hamburg - Justizministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger erlebte am Dienstagabend ein Moment des Triumphes. Nach langem Streit, nach erbitterten Diskussionen mit Vertretern der Unionsparteien, insbesondere der CSU, ist es vollbracht: Das von Ursula von der Leyen initiierte sogenannte Zugangserschwerungsgesetz, mit dem Internet-Sperren gegen Kinderpornografie eingeführt werden sollten, wurde vom Koalitionsausschuss beerdigt. Die FDP, die das Gesetz nie wollte, hat sich durchgesetzt.
Nun wird gerätselt, welche Zugeständnisse die Union wohl für die Einigung herausgehandelt hat. Schon wird spekuliert, nun käme sicher die Vorratsdatenspeicherung zurück - der zweite große Streitpunkt zwischen den Innen-, Rechts- und Netzpolitikern von Union und FDP. Doch einen Deal à la "Vorratsdatenspeicherung statt Netzsperren" hat es offenbar nicht gegeben. Unions- und FDP-Politiker berichten übereinstimmend, am Ende hätten einfach die Fakten, die Vernunft gesiegt - der Streit über die Datenspeicherung gehe in eine neue Runde. Niedersachsens Innenminister Uwe Schünemann (CDU) etwa attackierte die Haltung Leutheusser-Schnarrenbergers (FDP) zur Vorratsdatenspeicherung: "Die Justizministerin schützt durch ihre ideologische Blockadehaltung Pädophile und Terroristen und wird damit selber zu einem Sicherheitsrisiko in unserem Land", sagte Schünemann der "Welt".
Der rechtspolitische Sprecher der FDP-Fraktion im Bundestag, Christian Ahrendt, sagte, die Position von Innenminister Friedrich (CSU), der die Wiedereinführung der Speicherung fordert, sei "derzeit nicht kompatibel mit der FDP-Position". Man arbeite an einer eigenen Lösung, die die Gesetzeslage, das Urteil des Bundesverfassungsgerichts und die Vorgaben der EU umfasse.
Im Zusammenhang mit Friedrichs Forderung verwies Ahrendt erneut auf das Anfang des Jahres vorgelegte Eckpunktepapier der FDP-Justizministerin. Darin wird das sogenannte "Quick-Freeze"-Verfahren favorisiert. Demnach kann ein Polizist einen Sicherungsantrag für Datenverbindungen stellen, sobald er einen Verdacht auf eine Straftat hat. Erst nach einem Richterbeschluss hätte er dann Zugriff auf die Daten. Mit dem "Quick-Freeze"-Modell stellt sich Leutheusser-Schnarrenberger gegen eine anlasslose Vorratsdatenspeicherung, wie sie Friedrich vorschwebt.
Auch in der Union gab es durchaus Politiker, die das Sperrgesetz von Anfang an für untauglich hielten. Peter Bisa etwa, der dem Expertenkreis Internet und digitale Gesellschaft im Wirtschaftsrat der CDU vorsitzt, sagte SPIEGEL ONLINE nun: "Ich halte diese Entscheidung für sehr begrüßenswert, weil sie sich der Realität anpasst". Andere in der Union reagieren wütend auf die Einigung der eigenen Bundestagsfraktion mit dem Koalitionspartner.
FDP-Generalsekretär Christian Lindner konterte daraufhin am Mittwoch, die Union sei aufgefordert, "in ihren eigenen Reihen für Ordnung zu sorgen." Schünemanns Äußerungen zeigten, dass die Liberalen dringend als Korrektiv gebraucht würden, weil die Sensibilität für Bürgerrechte in der Union nicht überall vorhanden sei. Mit der Sperrung wäre "eine Art Zensurbehörde" geschaffen worden. "Das konnte verhindert werden", so Lindner. Es sei besser, wenn das Bundeskriminalamt Seiten mit kinderpornographischen Inhalt komplett aus dem Netz nehme und sich diese dann nicht - wie im Falle einer Sperrung - an anderer Stelle im Internet versteckten.
Mancher in der Union will die klare Front "Law-and-Order vs. Liberalismus" offenbar nicht so einfach aufgeben, wie die Äußerungen des CDU-Politiker Schünemann zeigen. Der FDP-Netzpolitiker Jimmy Schulz kommentierte die Einigung gegenüber SPIEGEL ONLINE mit den Worten: "Bei der Union hat sich die Einsicht durchgesetzt, dass sich ein aus Wahlkampfgründen unnötig hochgejubeltes Thema nicht auf Dauer hält. Die Jüngeren in der Union haben sich nach langem Zögern getraut, auch in diesem Thema mal ihre Meinung kundzutun."
Die Datenlage spricht für sich
Internetsperren gelten Kritikern als untaugliches Mittel im Kampf gegen Kinderpornografie im Netz, weil sie sehr leicht zu umgehen sind, den Betreibern der illegalen Angebote als Warnung dienen können und zu ihrem Einsatz eine Infrastruktur aufgebaut werden muss. Die, so fürchten die Kritiker, könnte auch für andere Arten der Inhaltekontrolle eingesetzt werden. Zudem wird ein großer Teil der im Netz ausgetauschten Kinderpornografie ohnehin nicht über Websites verteilt, sondern in geschlossenen Nutzergruppen herumgereicht - die hätte das Gesetz zwangsläufig nicht erreicht.
Das sogenannte Zugangserschwerungsgesetz trat im Februar 2010 zwar in Kraft, die Koalition hatte sich jedoch darauf geeinigt, die Anwendung für ein Jahr auszusetzen und zu prüfen, inwieweit das Löschen solcher Angebote möglich sei. Per Erlass wurde die Anwendung der Teile des Gesetzes ausgesetzt, die das Vorhalten von Sperrlisten durch das Bundeskriminalamt (BKA) und die Sperrung von dort aufgeführten Seiten durch die Internet-Provider vorsehen. Die Koalition hatte sich selbst eine Frist von einem Jahr gesetzt, um zu beurteilen, ob die Maxime Löschen statt Sperren zu den gewünschten Erfolgen führen könnte. Im Laufe dieser Frist hatten Unionspolitiker diese Erfolge immer wieder bestritten - nun aber sieht die Datenlage offenkundig anders aus.
BKA-Statistiken zeigen: Löschen funktioniert
Statistiken des Bundeskriminalamts (BKA) und von Internet-Beschwerdestellen weisen hohe Erfolgsquoten bei Löschanträgen aus. "Nach aktuellen Zahlen des Bundeskriminalamtes sind nach zwei Wochen 93 Prozent der kinderpornografischen Inhalte gelöscht, nach vier Wochen sind es sogar 99 Prozent", sagte Justizministerin Leutheusser-Schnarrenberger am Dienstag.
Thomas Jarzombek, Internet-Politiker der CDU und Mitglied der Enquete-Kommission "Internet und digitale Gesellschaft", sagte im Gespräch mit SPIEGEL ONLINE: "Da kann man nicht mehr ernsthaft davon sprechen, dass es ein Zielerreichungsproblem gibt." Hier habe sich einiges geändert, sagt Jarzombek mit einem Seitenhieb auf die Polizei des Bundes: "Vor einem Jahr, als das BKA noch Faxe geschickt hat, war das noch anders."
Gerade das BKA hatte immer wieder betont, Netzsperren seien im Kampf gegen Kinderpornografie ein unverzichtbares Mittel. Nun steht die Bundespolizei als eine Behörde da, die nach Gesetzen rief, anstatt die eigene Effizienz zu steigern.
Doch die verbliebenen Befürworter der Netzsperren aus dem Bereich der Politik und der Strafverfolgungsbehörden dürften nicht die einzigen sein, die mit der nun getroffenen Entscheidung unzufrieden sind. Für Vertreter der Unterhaltungsindustrie etwa bedeutet sie das vorläufige Ende eines langgehegten Traums: Sie hatten gehofft, dass eine einmal errichtete Sperr-Infrastruktur eines Tages auch auf Seiten angewendet werden könnte, die Zugang zu illegalen Musik- oder Filmdownloads bieten.
Die Grundsatzdiskussion darüber, wieviel Kontrolle staatliche Institutionen über den Netz-Verkehr ausüben sollen, ist mit dem Ende des Zugangserschwerungsgesetzes jedoch längst nicht am Ende. Die EU-Kommission möchte eine europaweite Richtlinie zu Internetsperren, die Lobbyverbände der Unterhaltungsindustrie wollen härtere Maßnahmen gegen Raubkopierer durchsetzen - etwa Zugangs-Verbote für Wiederholungstäter. Und die Vorratsdatenspeicherung ist längst nicht vom Tisch.