
Triage in der Coronapandemie Wir reden zu wenig über den Tod


Versorgung eines Covid-19-Patienten, der im künstlichen Koma liegt und beatmet wird
Foto: Marijan Murat / picture alliance / dpaDas Bundesverfassungsgericht hat beschlossen: Die Politik muss Regeln für die Triage festlegen. Das hört sich für manche Leute langweilig an. Andere sehen nicht, was überhaupt das Problem ist. Ich glaube, wir müssen mit so vielen Menschen wie möglich über die Triage diskutieren. Denn es ist ein Problem, das in der Coronapandemie alle angeht. Triage heißt die Entscheidung, wer stirbt und wer leben darf. Ärzte entscheiden das, wenn zwei Menschen beatmet werden müssen, um zu überleben – aber es ist nur noch ein Gerät da.
Das Problem mit der Triage ist, dass man für die Entscheidung Regeln braucht. Bisher galten in Deutschland die eines Berufsverbands für Ärzte. Die wichtigste Frage war: Wer hat bessere Chancen zu überleben? Das hört sich sinnvoll an. Aber die Befürchtung ist: Alte Menschen oder Menschen mit Behinderungen lässt man eher sterben. Das geht nicht, sagt das Bundesverfassungsgericht, das höchste Gericht in Deutschland.
Im vergangenen Jahr habe ich mich mit einer Entscheidung über Leben oder Tod beschäftigt. Mein Vater ist Anfang Mai 2020 gestorben. Er hatte Krebs. Die erste Welle der Pandemie beherrschte das Land. Man durfte niemanden im Krankenhaus besuchen. Viele Menschen starben allein in der Klinik, das wollte mein Vater nicht. Allerdings wollte er auch leben. Er hatte aber nicht nur Krebs, sondern auch zwei Schlaganfälle gehabt. Deshalb war er nicht immer ansprechbar. Ein paar Stunden in der Woche hatte er genug Energie, um zu diskutieren. In diesen Momenten haben wir darüber gesprochen, was mit ihm passieren soll. Das ist auch der Grund, warum dieser Text anders geschrieben ist als andere Kolumnen. Ich habe einfache Sprache benutzt. Genau in dieser Sprache habe ich mit meinem Vater diskutiert. Er hatte nach den Schlaganfällen Probleme, lange Sätze zu verstehen. Oder komplizierte Sätze.
Wir hatten noch nicht zu Ende diskutiert, als er das Bewusstsein verlor. Ich fragte eine Ärztin im Vertrauen. Sie sagte, ohne Operation wird mein Vater nicht mehr lange leben. Aber mit Operation müsste er noch sehr lange im Krankenhaus bleiben. Vielleicht wäre er gestorben, ohne seine Freundin und seine Freunde noch einmal zu umarmen. Dann musste ich eine Entscheidung treffen. Soll er operiert werden oder nach Hause entlassen werden?
Es wurde keine Triage angewendet. Aber die Ärzte haben angedeutet, ohne Operation sollte er lieber zu Hause gepflegt werden. Das Krankenhaus brauchte das Bett.
Ich habe entschieden, dass mein Vater nicht operiert wird. Er wurde nach Hause gebracht. Er ist noch ein paar Mal aufgewacht und war sehr froh, zu Hause zu sein. Er hatte keine Lust mehr auf das Krankenhaus, er hätte sich genau so entschieden wie ich. Zwei Wochen später starb er. Ich schreibe die Geschichte von meinem Vater auf, weil in der Öffentlichkeit wenig über den Tod gesprochen wird. Und weil ich glaube, dass in der Diskussion um die Triage auch die eigenen Entscheidungen der Menschen berücksichtigt werden sollten.
Die Triage ist eine extreme Situation. Niemand möchte, dass sie kommt. Aber die Triage berührt die wichtigsten Werte, die wir Menschen kennen. Die Entscheidung für ein Leben und gegen ein anderes Leben hat immer einen schlimmen Beigeschmack: Welcher Mensch ist überlebenswert? »Nicht lebenswert« ist ein Begriff, der von den Nazis benutzt wurde. Sie haben so zum Beispiel Menschen mit Behinderung oder mit Krankheiten bezeichnet, die sie ermordet haben. Bei der Diskussion um die Triage muss man in Deutschland immer berücksichtigen, dass hier viele, viele Menschen ermordet wurden. Nur weil sie krank waren oder eine Behinderung hatten.
Für eine Behinderung ist man nicht selbst verantwortlich. Für die eigenen Entscheidungen ist man selbst verantwortlich. Ich glaube, dass bei den staatlichen Regeln für die Triage deshalb die eigenen Entscheidungen auch eine Rolle spielen sollten.
In der Coronapandemie gehört zu den wichtigsten eigenen Entscheidungen, ob man sich impfen lässt oder nicht. Es geht hier nur um die Menschen, die sich überhaupt impfen lassen können. Leider wissen wir inzwischen, dass man sogar mit einer Impfung Corona bekommen kann. Aber wenn man geimpft ist, kommt man viel seltener ins Krankenhaus. Und man braucht noch seltener aufwendige Apparate, um zu überleben. Wer sich impfen lässt, hilft dabei, die Pandemie zu besiegen. Wer sich bewusst nicht impfen lässt, entscheidet sich für eine höhere Chance auf das Krankenhaus und auf den Tod. Das ist wissenschaftlich nachgewiesen.
Es ist keine einfache Diskussion, ob die Entscheidung gegen die Impfung eine Rolle bei der Triage spielen soll oder nicht. Ich respektiere, wenn jemand dagegen ist. Aber ein Beispiel zeigt, warum es sinnvoll ist. Angenommen, bei der Triage müssen die Ärzte entscheiden, wer ein Beatmungsgerät bekommt: ein älterer, aber kräftiger, ungeimpfter Mann mit großen Überlebenschancen. Oder ein Mädchen, das zu jung war zum Impfen, aber jetzt kleinere Überlebenschancen hat. Ich glaube, dass die Entscheidung des Mannes gegen die Impfung mit berücksichtigt werden sollte. Weil er dafür verantwortlich ist.
Eine wichtige Frage ist, welche Entscheidungen der Menschen genau bei der Triage berücksichtigt werden sollten. Wenn jemand eine sehr gefährliche Sportart macht und einen Unfall hat, dann hat das ja auch mit seiner Entscheidung für den Sport zu tun. Aber ich glaube, dass man dabei den Grund für die Notlage in den Krankenhäusern sehen muss. Das ist im Moment die Coronapandemie. Deshalb sollte nur die Entscheidung zählen, die genau damit zu tun hat und die im Krankenhaus bekannt ist: die Impfung. Bei anderen Notlagen in Zukunft können es aber auch andere Entscheidungen sein.
Es ist nicht leicht, die Gesetze für die Triage richtig zu erlassen. Man kann darüber viele unterschiedliche Meinungen haben. Deshalb ist es wichtig, dass wir alle darüber diskutieren. Und die Regierung muss sich anhören, was die Menschen dazu sagen.