Twitters Zensurmechanismus Meinungsfreiheit ist Ansichtssache

Twitters "Fail Whale": Das Befreier-Image ist vorerst dahin
Die Grenzen zwischen Zensur und legitimer Kontrolle sind fließend, genauer: abhängig vom Standpunkt. Aus Sicht amerikanischer Bürgerrechtler beispielsweise ist das Verbot der Holocaust-Leugnung in Deutschland Zensur. Das gleiche gilt für das Verbot verfassungsfeindlicher Symbole. Mit einer wirklich radikalen Auslegung von Meinungsfreiheit - jeder muss alles sagen dürfen, was er will - lässt sich die deutsche Gesetzgebung in diesem Punkt nicht vereinbaren.
In Frankreich ist es seit wenigen Tagen verboten, den Völkermord zu leugnen, den Türken zwischen 1915 und 1917 an Armeniern verübten. In der Türkei hat das für viel Wut und Verbitterung gesorgt. Dort wiederum ist es verboten, im Zusammenhang mit der massenhaften Ermordung von Armeniern von Völkermord zu sprechen. Beide, die Türkei und Frankreich, sind parlamentarische Demokratien. Wer ist hier Zensor, wer im Recht?
Fragen der Meinungsfreiheit werden in einer globalisierten Welt mit einem globalen Kommunikations- und Informationsmedium komplizierter denn je. Twitter hat sich für dieses Problem nun eine scheinbar einfache Lösung zurechtgelegt: Einzelne Kurznachrichten, Tweets, können künftig länderweise zum Verschwinden gebracht werden. In Frankreich kann der Tweet "Die Türken haben an den Armeniern einen Genozid begangen" stehenbleiben, in der Türkei wird er nicht angezeigt. Dort kann dafür der Tweet "Einen Völkermord an Armeniern hat es nie gegeben" sichtbar sein, der in Frankreich strafbar wäre.
Hunderte Sperrungen wegen "hate speech"
Twitter ist nicht das erste internationale Unternehmen, das das Netz "zensiert", wie Bürgerrechtler das stets nennen. Google entfernt schon seit vielen Jahren Inhalte aus seinem Suchmaschinenindex oder von einzelnen Diensten wie Blogger oder YouTube. Deutschland ist Googles eigener Statistik zufolge bei den Löschungswünschen in der Spitzengruppe: 125 Anfragen zur Entfernung von Inhalten kamen im ersten Halbjahr 2011 aus Deutschland, auf einen höheren Wert kommt nur Brasilien.
Über 2400 einzelne Inhalte sollten entfernt werden, dem Großteil der Wünsche (86 Prozent) kam Google nach. Den Löwenanteil machen Eingaben wegen übler Nachrede oder unzulässiger Schmähkritik aus. In diesen Fällen geht der Entfernung fast immer ein Gerichtsbeschluss voraus. 322-mal wurden bei YouTube Beiträge mit der Begründung entfernt, es handele sich um "hate speech" - darunter dürften vor allem Videos und Kommentare mit rassistischem und neonazistischem Inhalt fallen. So etwas wird in aller Regel aufgrund eines behördlichen Hinweises entfernt, Gerichtsbeschlüsse sind dafür nicht nötig.
Google filtert solche Inhalte dann selektiv - sie tauchen in der Suche unter Google.de nicht mehr auf oder sind bei YouTube.de nicht abrufbar. Der Unterschied zu dem Schritt, den Twitter am heutigen Freitag angekündigt hat, ist nicht groß. Allerdings will Twitter künftig darauf hinweisen, wenn etwas fehlt: "Dieser Tweet von @username ist nicht verfügbar in", gefolgt von der Angabe des Landes. Solche Platzhalter-Tweets wird man sehen, wenn ein Tweet für das eigene Land gesperrt wurde. Das Gleiche gilt für Sperrungen ganzer Accounts: "Dieser Account ist nicht verfügbar". Auf der Seite ChillingEffects.org wird man künftig nachlesen können, welche Tweets oder Accounts wo gesperrt wurden und warum, verspricht Twitter. Vorbild ist auch hier offenbar Google, wo die transparente Auflistung aller Löschanträge schon jetzt Standard ist.
Auf Anfrage von SPIEGEL ONLINE erklärte Twitter-Sprecherin Rachel Bremer, unter welchen Bedingungen Inhalte entfernt würden, "hängt von der Situation ab". Jede Anfrage werde einzeln geprüft. "Wir werden auf Basis der verfügbaren Information entscheiden, was die Bestätigung eines Gesetzesverstoßes einschließen könnte." Länderspezifisch blockiert würde stets nur auf konkrete Anfrage. Vorab-Filterungen nach Stichwörtern oder Themengebieten werde es nicht geben. Ob auch Zensuranfragen aus Ländern wie Syrien bearbeitet würden, beantwortete Bremer nicht.
Filterpraxis lässt sich leicht umgehen
Twitters länderspezifischer Filter lässt sich leicht überlisten: Wer der Meinung ist, nur das eigene restriktive Regime enthalte einem hier interessante Informationen vor, muss nur eine Einstellung in seinem Profil ändern - etwa von "Türkei" auf "Frankreich" oder umgekehrt. Die selbstgesetzte Ortsmarke schlägt bislang die durch die IP-Adresse mögliche Lokalisierung des Nutzers. Wie lange Twitter mit dieser sehr leicht zu umgehenden Filterpraxis durchkommt, bleibt abzuwarten.
Wirklich überraschend ist der Schritt nicht: Wie jedes Unternehmen, das im Internet aktiv ist, ist Twitter verpflichtet, sich an nationale Gesetze zu halten. Was nicht grundsätzlich zu kritisieren ist - in Deutschland etwa wäre man eher erbost, wenn ein Account, von dem aus Nazi-Propaganda verbreitet wird, nicht gesperrt würde. Was aber, wenn in Saudi-Arabien künftig Tweets zensiert werden, in denen dafür geworben wird, Frauen das Autofahren zu erlauben?
Eines jedenfalls macht Twitters Schritt noch einmal deutlich: Die Zeiten einer utopisch-ultralibertären Netzwelt, in der absolute Meinungsfreiheit global gilt, sind längst vorbei. Zumindest, wenn man sich auf den Plattformen multinationaler Unternehmen bewegt, die ja kein primär humanitäres, sondern in erster Linie ein kommerzielles Interesse haben. Twitter beispielsweise ist vom chinesischen Markt mit seinen mittlerweile über 500 Millionen Nutzern bislang ausgeschlossen - zu frei, zu wenig staatliche Eingriffsmöglichkeiten, zu wenig Zensur. Wird sich das nun ändern? Twitter-Sprecherin Bremer erklärte hierzu: "Twitter fühlt sich der Meinungsfreiheit verpflichtet und derzeit sehen wir in China keine Handlungsmöglichkeiten, die mit dieser Philosophie vereinbar wären. Wir haben derzeit keine Pläne, nach China zu expandieren."
Befreier-Image verloren
Twitter-Mitgründer Evan Williams hat 2010 einmal verkündet, ein Ziel seines Unternehmens sei es, eine "Kraft, die Gutes bewirkt", zu sein. Stimmt das noch? Im Netz - und natürlich auch bei Twitter - wird darüber derzeit heftig diskutiert. Arabische Twitterer rufen unter dem Hashtag #TwitterBlackout zum demonstrativen Boykott der Plattform auf. Sie befürchten, der während des Arabischen Frühlings als Werkzeug der Befreiung gepriesene Dienst könne sich nun dem Willen der Unterdrücker unterwerfen. Das Befreier-Image hat Twitter mit der heutigen Ankündigung erst einmal verloren.
Ähnliches gilt übrigens für die vor zwei Tagen verkündete Entscheidung Googles, künftig alle Nutzerdaten, die ein einzelner angemeldeter Nutzer quer über alle Google-Dienste hinweg hinterlässt, zu kombinieren: Wer Google-Dienste wie Googlemail, die personalisierte Suche, den Kalender, Online-Textverarbeitung, die Fotoplattform Picasa oder gar ein Handy mit dem Google-Betriebssystem Android benutzt, verrät dem Konzern mit dem inoffiziellen Motto "Don't be evil" mehr über sich, als er womöglich selbst weiß - wer erinnert sich schon daran, wonach er am 26. Januar vor einem Jahr gesucht hat? All diese Informationen will Google künftig verknüpfen, was Intensivnutzer seiner Dienste zu gläsernen Netzbürgern machen wird, über die ein einziger Konzern mehr weiß, als das in der Geschichte der Menschheit je zuvor möglich war.
Natürlich tut Google das nicht mit böser Absicht - das Unternehmen will, wie schon die ganze Zeit, einfach seine Möglichkeiten zur Monetarisierung seiner Nutzer optimieren. Ein gläserner Kunde, über dessen Vorlieben, Ängste, Wünsche, Pläne, Sorgen und Besessenheiten man alles weiß, ist der heimliche Traum eines jeden Vermarkters. Den kann Google künftig Wirklichkeit werden lassen.
Mit den aus den Hippie-Wurzeln des Silicon Valley tradierten Vorstellungen hat all das nicht mehr viel zu tun. Längst stehen bei den Netzgiganten von heute nicht mehr Ideale wie absolute Freiheit, völlige Transparenz oder das Streben nach einer besseren Welt dank Vernetzung im Vordergrund. Was nicht bedeutet, dass das Internet als Ganzes nicht all das trotzdem weiterhin verspricht - schließlich besteht es nicht nur aus Google, Twitter, Facebook und Co.