
Woker Antisemitismus Ihr seid gegen jede Diskriminierung, außer sie betrifft Juden und Israelis?


Demo gegen Antisemitismus (im Mai 2021 in München)
Foto: Sachelle Babbar / imago images/ZUMA WireDie Nazis haben den Ruf der Nazis so sehr versaut, dass nicht einmal mehr Nazis Nazis sein wollen. Und weil die Hauptmotivation der Nazis Judenhass war, hat auch der Ruf des Antisemitismus arg gelitten. Nicht einmal Antisemiten wollen mehr Antisemiten sein, im Gegenteil geht die Worthülse eines Appells gegen Antisemitismus selbst Judenhassern überraschend leicht von den Lippen. Weshalb der Antisemitismus-Teufel im Detail steckt.
Deutschland ist ein reiches Land, es mangelt an fast nichts, aber am wenigsten mangelt es an den unterschiedlichsten Antisemitismen: rechter und linker Judenhass, muslimischer und urchristlicher Judenhass, verschwörungstheoretischer und vulgärkapitalismuskritischer Judenhass. Nicht zu vergessen den Alltagsjudenhass der gesellschaftlichen Mitte. Judenhass ist ein bunter großer Strauß, für alle ist etwas dabei, und jeden Tag kommt eine neue Blume der Verachtung hinzu, aber die vielleicht größte stinkende Blüte im 21. Jahrhundert ist der Israel-bezogene Antisemitismus.
Mit Antizionismus als vermeintlichem Schafsfell, das der Wolf Judenhass zur Tarnung verwendet. Es gibt das geflügelte Wort »Israel ist der Jude unter den Staaten«, man muss nicht lange suchen, um zu begreifen, was gemeint ist. Die Uno-Vollversammlung hat 2020 genau 23 Resolutionen zur Verurteilung verschiedener Länder verabschiedet. 17 davon waren gegen Israel gerichtet, die restliche Welt – Syrien, Myanmar, Nordkorea, Iran und so fort – muss sich mit zusammengerechnet sechs Verurteilungen begnügen. Das ist nicht nur grotesk, es ist auch purer Antisemitismus.
Während rechter und islamischer Judenhass die tödlichsten Antisemitismen bleiben, denen weltweit Jüdinnen und Juden zum Opfer fallen, ist eine neue, perfide Variante des Judenhasses hinzugekommen: woker Antisemitismus. »Woke«, seit Kurzem im Duden , bedeutet so viel wie »ein Bewusstsein für Diskriminierung habend«, was im Kern eine gute und notwendige Facette der Öffentlichkeit ist. Wokeness ist angesichts von strukturellem Rassismus, Frauenhass, Behindertenfeindlichkeit und Homo- sowie Transphobie richtig und eine linke und linksbürgerliche Position – die aber bei überraschend vielen Leuten nicht für Juden und Jüdinnen gilt.
Der britische Comedian und Autor David Baddiel hat darüber jüngst ein sehr empfehlenswertes Buch geschrieben: »Und die Juden?« Es beginnt mit einem Vorwort, in dem Baddiel erklärt, weshalb der Hanser Verlag entschied, den englischen Originaltitel »Jews don't count« (Juden zählen nicht) nicht zu übersetzen: Deutsche verstünden keine Ironie. Aber in der Tat zählt die Diskriminierung von Juden in Form von israelbezogenem Antisemitismus bei einer Vielzahl von Leuten und Organisationen, die sich für aufklärerisch halten, einfach nicht.
Als Folge davon geht woker Antisemitismus hervorragend Hand in Hand mit Israel-bezogenem Judenhass. Das jüngste Beispiel davon ist der soeben erschienene Bericht von Amnesty International. Früher war das eine verdienstvolle Institution der Freiheit. Mit ihrem Israel-Bericht muss sich Amnesty International dem Vorwurf stellen, sich zu einer antisemitischen Organisation zu entwickeln – das ist die traurige Wahrheit. Denn der Bericht beinhaltet Bigotterien und Dämonisierungen des Landes Israel, der immer noch einzigen rechtsstaatlichen Demokratie im Nahen Osten.
Amnesty nennt Israel einen »Apartheid-Staat«, dabei ist eine arabisch-islamische Partei Teil der Regierungskoalition. Arabische Israelis machen über 20 Prozent der Bevölkerung des Landes aus und sind im Gegensatz zu Südafrika früher Bürger mit allen Rechten und Pflichten, und natürlich gibt es in Israel wie in allen andern Ländern Rassismus. Aber das macht Israel ebensowenig zu einem Apartheid-Staat wie Deutschland, Großbritannien oder Uruguay. Israel als »Apartheid-Staat« zu bezeichnen, ist antisemitisch und nicht antirassistisch, antikolonial oder sonst wie woke.
Der woke Antisemitismus profitiert davon, dass einerseits zu Recht Rassismus immer intensiver diskutiert wird – dass aber gleichzeitig in den Augen vieler ansonsten um Diskriminierung besorgter Menschen Israel-bezogener Antisemitismus einen blinden Fleck darstellt. Zum Beispiel bei Jürgen Trittin, eigentlich woker Vorkämpfer der Grünen – der aber anlässlich des Todes des Kommune-1-Mitgründers Dieter Kunzelmann schrieb : »Ein großer Sponti ist tot. R.I.P.«
Kunzelmann hat nicht nur gegen Israel gehetzt und die infame Formulierung eines »deutschen Judenknax« verbreitet. Er war auch der Kopf der Gruppe, die am 9. November 1969, dem Jahrestag der Novemberpogrome, ein Bombenattentat auf das Jüdische Gemeindehaus in Berlin verübte: antisemitischer geht es kaum mehr. Jürgen Trittin hätte im Leben niemandem öffentlich gedacht, der sich ähnlich offen rassistisch geäußert und Gewalt gegen Schwarze Menschen und Einrichtungen verübt hat. Aber ein bisschen Israel-bezogener Antisemitismus ist doch okay – das ist die Essenz des woken Antisemitismus: gegen jede Diskriminierung, außer sie betrifft Juden und Israelis.
Hanebüchene Schutzbehauptung von Claudia Roth
Sicher total zufällig war Jürgen Trittin übrigens auch dagegen, BDS – die aus dem islamistischen Katar angeführte Bewegung gegen Israel, die Abkürzung steht für »Boykott, Desinvestitionen und Sanktionen« – vom Bundestag ausgehend als antisemitisch zu bezeichnen. Die Parlamente unter anderem von Deutschland, Österreich, Großbritannien und den USA haben entsprechende Beschlüsse gefasst, jeweils mit großen, parteiübergreifenden Mehrheiten. Nun ist Trittin keine Figur der ersten Reihe mehr bei den Grünen, aber leider hat die ansonsten mustergültig woke Claudia Roth, amtierende Kulturstaatsministerin, ebenso dagegen gestimmt, den antisemitischen BDS als antisemitisch zu bezeichnen. Das ist nicht nur deshalb traurig, weil im Bereich der Kultur viel an wokem Antisemitismus zu adressieren und bekämpfen wäre. Sondern auch, weil Claudia Roths ansonsten großer und wichtiger Kampf gegen Diskriminierung dadurch Schaden nimmt. Und schlimmer noch: Sie hat ihre Ablehnung der BDS-Einlassung des Bundestags auch begründet , mit einem Text, der folgendes Zitat enthält:
»Auch kommt es zum Teil zur Dämonisierung der israelischen Bevölkerung in verschwörungstheoretischer Art und Weise. Es gibt Argumentationsmuster und Methoden der BDS-Bewegung, die antisemitisch sind und Assoziationen mit der widerlichen Naziparole »Kauft nicht bei Juden!« hervorrufen.«
Das Argument, weshalb der antisemitische BDS trotzdem nicht als antisemitisch bezeichnet werden soll: die Bewegung sei nicht zentral gesteuert. Angesichts der Dezentralität der meisten großen Bewegungen des 21. Jahrhunderts wie Fridays for Future oder Black Lives Matter ist das eine hanebüchene Schutzbehauptung zur Verschleierung der Tatsache: BDS ist antisemitisch. Apropos – #FFF und #BLM als große und notwendige Bewegungen habe ihre eigenen Erfahrungen mit wokem Antisemitismus. Die internationalen Accounts beider veröffentlichten 2021 Tweets, in denen sie vorgeblich Palästinenser unterstützten. Tatsächlich war der Zeitpunkt entscheidend, nämlich mitten im Kampf der palästinensischen Terrororganisation Hamas gegen Israel im Mai 2021. Wer exakt zu diesem Zeitpunkt so eindeutig Partei ergreift, unterstützt die zweifellos antisemitische Hamas, egal, was sonst noch so begleitend oder entschuldigend behauptet wird.
Der woke Antisemitismus als vielleicht jüngste Stinkblüte des Antisemitismus wird von bedenklichen Entwicklungen flankiert oder begünstigt. Wie etwa der Tatsache, dass deutsche Journalisten mit einer Historie von antisemitischen Einlassungen oft erst dann mit Sanktionen rechnen müssen, wenn die Fälle »hochkochen« und man sie nicht mehr ignorieren kann. Vorher lässt sich die ein oder andere Judenfeindlichkeit geflissentlich ignorieren. Und in vielen redaktionellen Medien – leider ab und an auch dem SPIEGEL – ist noch immer verbreitet, Israel mit einer Art Default-Schuld zu betrachten. Die Folge: Wenn die terroristische Hamas die Zivilbevölkerung in Israel angreift, stellen die Headlines die Antwort Israels auf militärische Ziele als ursprüngliche Aggression dar – Israel bombardiert Gaza, eine Täter-Opfer-Umkehr also.
Rest-Wokeness ist dann auch egal
Es gibt ein simples Mittel gegen den woken Antisemitismus: Jüdinnen und Juden in die Wokeness miteinzubeziehen. Fertig. Und das ist auch dringend notwendig, denn insbesondere die deutsche Gesellschaft braucht dringend Wokeness. Aber eine Vielzahl von notwendigen Debatten wie die antirassistische oder die postkoloniale Diskussion sind gefährdet, antisemitische Muster zu normalisieren. Es ist vollkommen klar, dass die katastrophale Kolonialvergangenheit insbesondere der europäischen Länder und ihre bis heute anhaltenden Auswirkungen diskutiert werden müssen. Aber diese Debatte zu kapern, um Israelhass zu rechtfertigen oder gar in den Mittelpunkt zu stellen, ist schlicht antisemitisch. Da spielt auch keine Rolle, wenn man statt »Juden« jedes Mal artig »Zionisten« sagt.
Oder wenn man im Angesicht des Antisemitismus halbgare Erklärungsversuche startet, so wie Amnesty International Deutschland. Der deutsche Teil der Bewegung »Fridays for Future« hatte dem internationalen Twitteraccount rasch widersprochen . Die deutsche Sektion von Amnesty dagegen distanziert sich nicht etwa von dem antisemitischen Bericht der Mutter, sondern möchte zum Bericht keine Aktivitäten durchführen und schreibt als Begründung: »Im nationalen aktuellen wie historischen Kontext ist eine objektive, sachbezogene Debatte zu der vom Bericht vorgenommenen Einordnung nur schwer möglich.« Für mich klingt das wie: Für unseren antisemitischen Israelhass seid ihr einfach zu emotional wegen des Holocaust. Was ich persönlich fast noch eine Spur widerlicher finde. Schade, schade, aber bis auf Weiteres gilt für mich: Wer für Amnesty International spendet, fördert auch die antisemitische Sache . Die Rest-Wokeness ist dann auch egal.