Gewaltausbruch in der arabischen Welt Wie viel Netzzensur muss sein?

In der arabischen Welt werden Botschaften angegriffen - und YouTube sperrt einen Videoclip in bestimmten Ländern. Mit der Macht der Web-Konzerne wächst auch ihre Verantwortung. Aber wann sollen, müssen, dürfen sie in Inhalte eingreifen? Was ist Schutz, was ist Zensur?
Unruhen vor US-Botschaft in Kairo: Videoplattform verantwortlich?

Unruhen vor US-Botschaft in Kairo: Videoplattform verantwortlich?

Foto: AFP

In Kairo wurde die US-Botschaft belagert, in Bengasi starben der US-Botschafter, Diplomaten und Angestellte, zu Gewaltausbrüchen kam es am Freitag auch in Ägypten und Indonesien, im Jemen und Sudan. Ein Anlass für die Gewaltausbrüche ist, zumindest vordergründig, ein geschmackloses Video, das sich vor allem über die Videoplattform YouTube über die Welt verbreitete. In Libyen und Ägypten sperrt Google seit Donnerstag den Zugriff auf YouTube-Kopien des Films "The Innocence of Muslims".

Das Machwerk ist dumm und geschmacklos, Anspielungen auf sexuelle Präferenzen von Eseln eingeschlossen. Doch es verstößt nicht gegen YouTube-Richtlinien. Das räumt Google selbst in einer Mitteilung ein. Der Film wird nicht gelöscht, sondern nur in einigen Staaten nicht mehr gezeigt. Nachrichtenagenturen  zitieren  die Stellungnahme des Konzerns, der zufolge YouTube "angesichts der sehr schwierigen Situation in Libyen und Ägypten" in beiden Ländern "den Zugriff vorübergehend eingeschränkt" habe. Im Sudan und Jemen wurde das Video nicht gesperrt. In beiden Ländern sind seit Donnerstag Botschaften attackiert worden, im Jemen starb dabei ein Mann.

Googles Reaktion auf die Gewalt ist verständlich, aber falsch. Aus der Stellungnahme des Konzerns lässt sich dieser Leitsatz zur Filterung ableiten: Selbst nach den eigenen Nutzungsbedingungen zulässige Inhalte sind zu sperren, wenn die möglichen oder tatsächlichen Folgen der Veröffentlichung zu gravierend sind.

Was darf, kann, muss kontrolliert, gelöscht werden?

Die Frage, wie viel Verantwortung die Konzerne tragen, auf deren Servern sich viel von dem abspielt, was wir Internet nennen, stellt sich in diesen Tagen einmal mehr. Darf Google unbesehen Suchanfragen durch häufig damit kombinierte Begriffe ergänzen - auch wenn damit Gerüchte und Verleumdungen perpetuiert werden? Muss Amazon vorab kontrollieren, welche Tags seine Nutzer bestimmten Büchern zuweisen? Ist die Veröffentlichung eines Videos dann in Ordnung, wenn es Gewalt gegen ein unterdrückerisches Regime anstacheln, aber gefährlich, wenn sich die Gewalt gegen westliche Botschaftsmitarbeiter richten könnte?

Ein Gedankenexperiment: Angenommen, es taucht ein Video auf, in dem ein Polizist in der chinesischen Provinz Xinjiang vermeintlich unprovoziert einen Menschen niederknüppelt - wann sperrt YouTube diesen Clip? Wenn die ersten chinesischen Regierungsgebäude gestürmt werden? Wenn Uiguren die ersten Han-Chinesen lynchen? Wann ist eine Situation "schwierig" genug, um Videos zu blockieren? Ist ein Bürgerkrieg wie der in Syrien Anlass genug? Ausschreitungen wie die im August 2011 in London?

Die Konzerne setzen Werte durch

Weil die Netz-Konzerne wie Google, Facebook, Amazon und andere mehr und mehr unser Bild von der Welt formen, wächst auch ihre Verantwortung. Schon vor langer Zeit haben alle großen Anbieter begonnen, deshalb permanent in das einzugreifen, was ihre Nutzer online hinterlassen. Bei YouTube findet man dank offenbar gut justierter algorithmischer Filter und menschlicher Sichter praktisch nie pornografische Beiträge. Facebook hat einen ganzen Katalog von Regeln, nach denen hochgeladenes Material und hinterlassene Kommentare geprüft und bei Bedarf gelöscht werden. Google filtert seine Suchergebnisse, je nach den in einem Land geltenden Erfordernissen - in Deutschland zum Beispiel werden Fundstellen weggelassen, die mit Nazi-Propaganda zu tun haben. In den USA gälte das als Zensur. Auch Twitter hat sich Anfang dieses Jahres einen Zensurmechanismus installiert, der es bei Bedarf erlaubt, bestimmte Tweets in bestimmten Ländern zum Verschwinden zu bringen, je nach Gesetzeslage.

Die Konzerne setzen Werte durch. Manchmal die der Länder, in denen sie operieren. Und manchmal ihre eigenen.

Wer macht die Regeln, wo zieht man die Grenzen? Google beispielsweise könnte den Leitsatz mit der "schwierigen Situation" einschränken: Gesperrt wird nicht, wenn die YouTube-Clips nach Augenzeugenvideos aussehen, man blockiert nur eindeutig gestelltes Material. Aber auch das ist nicht so einfach, wie es zunächst scheint. Wenn irgendwelche Menschen unter der Anonymous-Marke zu Angriffen auf Firmen oder Individuen aufrufen, ist das wegen der möglichen Konsequenzen sperrwürdig? Oder freie Meinungsäußerung? Und wer beurteilt die Authentizität eines bestimmten Clips?

Beiläufig verschiedene Grade von Meinungsfreiheit festgelegt

Mit seiner Ad-hoc-Entscheidung hat der Suchmaschinenkonzern vorerst ganz beiläufig verschiedene Grade von Meinungsfreiheit für verschiedene Regionen der Welt festlegt. Google entscheidet, dass Menschen in Libyen und Ägypten Dinge nicht sehen dürfen, die für US-Bürger und Europäer zulässig sind.

In der Stellungnahme des Unternehmens heißt es: "Wir geben uns große Mühe, eine Gemeinschaft zu schaffen, in der jeder unterschiedliche Ansichten äußern kann. Das ist schwierig, weil Dinge, die in einem Staat in Ordnung sind, in einem anderen Staat anstößig sein können." Auf die entscheidende Frage aber geht Google nicht ein: Für wen muss etwas als anstößig gelten, damit Google sperrt? Für eine gewaltbereite Minderheit? Eine gefühlte Mehrheit?

Man kann Google nicht vorwerfen, dass der Konzern keine abschließenden Antworten auf diese schwierigen Fragen hat. Es gibt keine einfache, allgemeingültige Position. Man muss jeden Einzelfall diskutieren. Aus Googles Stellungnahme aber kann man keine Kriterien ableiten, nach denen der Konzern künftig in vergleichbaren Fällen abwägen wird. Google sagt lediglich: Wir haben diesmal so entschieden.

Es werden sich keine allgemeingültigen, vor allem keine international konsensfähigen Regeln für Kontrolle all der zwangsläufig international zugänglichen Internetplattformen entwickeln lassen. Die Konzerne sollten jedoch zumindest transparent handeln, die eigenen Filterkriterien offenlegen, zur Diskussion stellen und sie verlässlich anwenden. Ein gänzlich ungefiltertes Netz ist schon lange nur noch eine Illusion.

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