YouTube-Videos Die Macht der Millionen Zeugen
Es hat sie immer gegeben, diese Bilder, bei denen man lieber wegsieht. Halb verbrannte Kinder, die nach dem Napalm-Beschuss schreiend aus ihren zerstörten Dörfern flohen; die Hinrichtung eines Vietcong durch den Polizeichef von Saigon durch Schuss in die Schläfe; die Leichen diverser Massaker; das Leid der Arbeiter, die Tschernobyl abdichteten und mehr.
Früher hatten solche Bilder und Geschichten eine feste Zeit. Man sah und hörte sie in den Nachrichten am Abend, in den Polit-Magazinen des Spätprogramms. Wer nicht wollte, sah einfach weg.
Dabei, müssen wir inzwischen erkennen, bekamen wir nie die volle Dosis, immer nur einen winzigen Ausschnitt zu sehen: Das, was uns entweder die Medienmacher zumuten wollten (und vieles wurde und wird aus guten Gründen nicht gezeigt) oder Machthaber sehen ließen. Die Manipulation der bildmächtigen Medien begann mit deren Erfindung. Allein der Aufwand, Realitäten mit Kameras einfangen zu wollen, sorgte früher dafür, dass sich gerade die Medien, die Realität am unmittelbarsten zu vermitteln schienen, am leichtesten zensieren ließen.
Diese Form der Wirklichkeitsverzerrung, indem man nur die Abbildung bestimmter Ausschnitte zuließ, war durchaus nicht auf totalitäre Regime begrenzt. Dort geschah es unverhohlen - von Goebbels über die Sowjet-Propaganda bis zu heutigen Zensoren wie China oder Iran -, anderenorts derweil geschickter, aber kaum weniger perfide. "Embedment" von Journalisten, dieser skandalöse Euphemismus der US-Amerikaner im letzten Irak-Krieg, markierte einen neuen Tiefpunkt.
Wir sind der Kameramann
Wahrscheinlich wäre so etwas heute kaum mehr möglich. Die eindrücklichsten, bedrückensten, erschreckensten, aber auch die hoffnungsvollsten, symbolträchtigsten Bilder der vergangenen Wochen wurden nicht von professionellen Kameraleuten geschossen, sondern von Jedermann. Wo auch immer etwas geschah, in Tunesien, Ägypten, im Jemen, in Jordanien, fand es per Handy-Kamera festgehalten schnell seinen Weg auf YouTube, wo entsprechende Stichwortsuchen inzwischen allein zu den Unruhen in Ägypten Tausende von Videos erschließen. YouTube und Co sind heute die "Waffen der Massenverbreitung".
Darunter sind Dinge, die Medien ohne den Druck von YouTube vielleicht nicht gezeigt hätten. Die unmittelbare Nähe zum Sujet aber, zu den Betroffenen, wirkt vor Ort mobilisierend, und im Ausland solidarisierend: Es ist erheblich schwerer, hier eine Distanz zur Nachricht zu halten. Wenn da in Kairo Polizeiwagen in Mengen hinein- und Menschen überfahren (siehe Video oben), macht allein schon der Kontext der Filmentstehung klar: Das hättest du sein können, Zuschauer. Es hätte jeden treffen können, schuldlos, plötzlich, potentiell tödlich. Es ist nicht vorstellbar, dass der Macht solcher Bilder mit offiziellen Statements zu begegnen wäre. Für uns Augenzeugen wird in solchen Momenten klar, wer die Täter sind und wer die Opfer.
Jetzt schon Bilder, die Geschichte schrieben: Ägyptens "Tiananmen-Moment"
Natürlich ist auch das gefährlich. Auch bei YouTube bilden die Angebote sogenannter professioneller Medien hier ein regulierendes Gegengewicht - denn ja, es gibt dort auch Videos, die nicht minder propagandistisch sind als die so mancher Staatsmacht: Da wird dramatische Musik unterlegt, martialische Botschaften werden verbreitet, da werden zahlreiche Szenen zu Kondensaten Wut weckender Gewaltexzesse verdichtet. Es ist absolut nicht frei von Propaganda, dieses Web. Aber es ist Information, Zeugenschaft und eben auch Propaganda von allen Seiten - und es ist an uns, uns daraus ein Bild zu machen.
Das ist wie früher: Man muss eben hinsehen, aber es ist auch schwieriger geworden, wegzusehen. Das ist gut, weil öffentliche Aufmerksamkeit und Empörung die einzigen Waffen sind, die wirklich Kriege und Konflikte beenden können - und hoffentlich sogar verhindern. Mit jedem Bild, mit jeder Augenzeugenschaft, legitimiert sich derzeit der Widerstand in Ägypten - und diskreditiert das Regime.