"Metal Gear Solid 4" Die Antikriegsseifenoper

"Metal Gear Solid 4" ist fotorealistisch, zuweilen bizarr mit Latex-Fetisch, ein Kriegsspiel gegen den Krieg. Elitesoldat Snake schleicht durch eine apokalyptische Sci-Fi-Welt, auf der Suche nach Erlösung und seinen Wurzeln: So sieht der zweite Game-Blockbuster des Jahres aus. Christian Stöcker hat ihn durchgespielt.

Der alte Mann kann eigentlich längst nicht mehr. Seine Haut ist faltig, sein Haar und der Schnurrbart sind grau. Wenn er längere Zeit in der Hocke dahinschleichen muss, stöhnt der vergreiste Elitesoldat Snake und fasst sich ins Kreuz. Und das muss er oft, denn das ist das Wesen von "Metal Gear Solid" (MGS): Hier wird gekrochen statt geschossen, taktiert statt attackiert - echte Könner schaffen ein komplettes Spiel ohne ein einziges Todesopfer.

Schon seit 1987 schleicht Snake so herum, seit 1998 exklusiv auf Sonys Playstation-Konsolen. Neben Rambo und Indiana Jones ist er der dritte Held aus den Achtzigern, der 2008 noch mal ran muss. Und der einzige, der wirklich keine Lust mehr aufs Kämpfen hat. MGS 4 ist ein politisches Spiel, ein Antikriegs-Kriegsspiel, wenn man so will - wenn auch ein bisweilen sehr verdrehtes.

Die Serie hat seit vielen Jahren eine globale, begeisterte bis fanatische Fangemeinde. Es gibt ein eigenes Metal-Gear-Wiki  und mehr als 46.000 Blog-Einträge zum Thema. Eine Internet-Suche nach der Wortgruppe wirft mehr als 25 Millionen Treffer aus. MGS 4 verkaufte sich dem Hersteller Konami zufolge allein in Europa innerhalb der ersten Woche nach dem Start eine Million mal - und das, obwohl der Titel nur für eine einzige Konsole erscheint, nämlich Sonys Playstation 3. In Japan ziehen nun sogar die Verkaufszahlen der Konsole an.

Ein bisschen Fetisch-Sex fürs Blockbuster-Potential

Als Blockbuster war der Titel schließlich von vorneherein konzipiert. So hat Kojima vier echte Models als Vorlagen für vier Elite-Kampfmaschinen engagiert - und wer deren harte Schalen geknackt hat, wird dafür mit Pixelschönheiten in hautengen Fetischanzügen belohnt, die lasziv vor der Kamera herumkriechen. "Metal Gear Solid 4" ist ein Fest für Latexfreunde - sehr japanisch, das Ganze, und ein bisschen beunruhigend.

Der Titel ist der zweite Blockbuster des Jahres neben dem anderen Spiel mit der 4 im Titel, Rockstar Games' " Grand Theft Auto IV" - das sich allerdings noch deutlich besser verkauft. Aber Rockstar hat sich auch von der exklusiven Bindung an Sony losgesagt: GTA IV gibt es auch für Microsofts Xbox 360.

In vielerlei Hinsicht ist MGS 4 ein krasser Gegenentwurf zu Rockstars Gangster-Epos. Es ist ein äußerst konservativer Titel, nicht nur wegen seines vorzeitig vergreisten Helden. Snakes Vater Hideo Kojima hält an all dem fest, womit sogenannte Open-World-Games wie GTA gebrochen haben: Feste Levelstruktur, rigide Erzählreihenfolge, eng umgrenzte Einsatzgebiete mit unüberwindlichen Mauern, festgelegte Speicherpunkte, ab und an epische Kämpfe gegen Endgegner. Im direkten Vergleich fühlt sich das Spiel an wie eine Zwangsjacke.

Sieht aus wie Hollywood, spielt sich wie aus den Achtzigern

Es sieht aus wie eine Hochglanz-Hollywood-Produktion, spielt sich aber in vieler Hinsicht wie ein Konsolentitel aus den Achtzigern. Viele dieser Konventionen waren einst Hardware-Beschränkungen geschuldet - feste Speicherpunkte gibt es beispielsweise deshalb, weil frühe Spielkonsolen keinen internen Speicher hatten. Heute könnte man auf sie verzichten.

Kojima hat aber mit keiner der Konventionen gebrochen. Einziges Zugeständnis an die aktuelle Konsolengeneration: Die Kamera lässt sich jetzt frei um die Spielfigur herumbewegen - in anderen Spielen längst Standard. Sonst aber ist alles beim Alten. Schulterhohe Level-Begrenzungen, die der Elitesoldat Snake nicht überwinden kann, Endgegner, denen man mehrere Panzerabwehrraketen oder komplette MG-Magazine in den Kopf jagen muss, bis sie endlich umfallen. Gerade in Verbindung mit der fotorealistischen Optik wirkt das bisweilen absurd.

Diese Optik aber macht MGS 4 aus, im Spiel selbst und noch viel mehr in den Zwischensequenzen, den "Cutscenes". Kojima kokettiert schon länger damit, dass er auch gerne Filme machen würde. Immer haben sich MGS-Spiele durch lange, oft langatmige Passagen ausgezeichnet, in denen man nur zusieht. In MGS 4 aber hat es der Meister übertrieben.

45-minütige Zwischensequenzen

Passagenweise ist der Spieler zehn Minuten lang mit dem Controller in der Hand in Aktion, um sich anschließend 45 Minuten lang Animationsfilme anzusehen - auch wieder mit dem Controller in der Hand, weil ab und zu ein schneller Tastendruck Zusatzbilder freischaltet. Das gilt sogar fürs Finale: Nach dem Showdown dauert es eine geschlagene Dreiviertelstunde, bis alle Handlungsstränge der Serie auserzählt, alle Liebenden verheiratet, Familien vereint und Vater-Sohn-Konflikte thematisiert sind. Das ist maßlos. Und manchmal mühsam, weil man nie weiß, wie lange es eigentlich noch dauert, bis man endlich ins Bett gehen kann.

Maßlos ist auch die Story. In endlos scheinenden Dialogen wird ein Plot von historischen Dimensionen nachgezeichnet: Vom Zweiten Weltkrieg bis in eine nicht allzu ferne Zukunft reicht die fiktive Parallel-Geschichte, die Kojima sich ausgedacht hat. Das Spiel stellt ständig Querverweise her, lässt in Millisekunden-Flashbacks sogar Originalbilder aus älteren MGS-Titeln auftauchen oder Snake Erinnerungs-Echos aus alten Dialogen hören. Schauplätze früherer Spiele werden noch einmal besucht (in höherer Auflösung, versteht sich), Musikstücke aus alten Soundtracks hervorgekramt. Das ist eine Verneigung vor den Fans der ersten Stunde, macht MGS 4 aber auch zu einem hermetischen Erlebnis: Wer nicht aufgepasst hat, sich nicht erinnert oder gar nicht alle vorangegangenen Teile durchgespielt hat, der bleibt von weiten Teilen der Story ausgesperrt.

Trotz allem ein höchst faszinierendes Gesamtpaket

Trotz alledem fasziniert MGS 4. Wegen der auf Augenhöhe mit Hollywood und Hongkong inszenierten Actionfilmsequenzen. Wegen des stimmig-militärischen Designs dieser kalten Spielwelt vom Pistolenmagazin bis zum Kampfroboter. Wegen seiner kühnen, wenn auch für westliche Gemüter überzogen wirkenden Emotionalität. Und vor allem wegen Kojimas offensichtlichem Bemühen, etwas zu schaffen, das über sich selbst hinausweist.

Die dunkle Welt, durch die der alte Snake sich kämpft, ist ein überdrehtes Zerrbild, eine düstere Extrapolation heutiger US-Außenpolitik. Überall auf dem Planeten toben Stellvertreterkriege, die von privaten Söldnerarmeen ausgefochten werden - Blackwater lässt grüßen. Die "Kriegswirtschaft", die den Planeten quält und gleichzeitig am Laufen hält, ist das zentrale Thema, und die Frage, welches Übel man abschaffen kann, ohne damit ein anderes stärker zu machen.

Die Kontrolle über das Schlachtfeld, die dunkle Weltverschwörer im Hintergrund haben, reicht bis in die Blutbahnen der Kämpfer - und Kojima lässt keinen Zweifel an der Gefahr, dass diese Kontrolle vom digitalen Schlachtfeld in die Realität schwappen könnte. Aber es ist eben ein bisschen viel, dass das Schicksal der Menschheit dabei untrennbar mit dem Familienschicksal des Spielhelden verbunden ist.

Kojima will kein Snake-Spiel mehr machen - aber das hat er nach dem letzten MGS-Titel auch schon behauptet. Schön gesagt hat es ein Spielekritiker auf der britischen Seite Eurogamer.net: "Wir lieben dich, Snake. Bitte komm nicht wieder."

Die Wiedergabe wurde unterbrochen.
Merkliste
Speichern Sie Ihre Lieblingsartikel in der persönlichen Merkliste, um sie später zu lesen und einfach wiederzufinden.
Jetzt anmelden
Sie haben noch kein SPIEGEL-Konto? Jetzt registrieren