Appaяatschik Der beste Radiosender der Welt

Fünf Jahre lang haben Experten des Music Genome Project Pop-Songs analysiert und den umfassendsten Musikkatalog der Welt erstellt. Herausgekommen ist Pandora - ein lernfähiger Computer-DJ, der jedem Hörer sein individuelles Programm zusammenstellt.

Jonathan Franzen hat es vorausgesehen. In seinem Bestseller "Die Korrekturen" aus dem Jahr 2001 entwirft der Computer- und Musik-Freak Brian eine bahnbrechende neue Software:

"Brians Produkt, genannt Eigenmelody, errechnete aus einem Musikstück einen Eigenvektor, der die tonale und melodische Essenz des Liedes in exakte, manipulierbare Koordinaten umwandelte. Ein Eigenmelody-Nutzer konnte eines seiner Lieblingslieder von Moby wählen. Eigenmelody würde den Song der Wahl darauf analysieren, eine Musikdatenbank nach Titeln mit ähnlichen Eigenvektoren durchsuchen und eine Liste verwandter Stücke auswerfen, die der Nutzer selber vielleicht nie gefunden hätte."

Franzens Protagonist verkauft seine Software später an die imaginäre W Corporation und wird stinkreich. In der realen Welt musste man bislang einen ebenso qualifizierten (selten) wie hilfsbereiten (sehr selten) Plattenverkäufer kennen, um gute musikalische Tipps der oben genannten Art zu bekommen.

Coldplay klingt nicht wie REM

Musikshops wie iTunes oder Amazon sind zwar in der Lage, aufgrund ihrer Datenbanken Empfehlungen auszusprechen ("Kunden, die Titel von Coldplay gekauft haben, haben auch Titel von diesen Künstlern gekauft") - doch die sind meistenteils Mist. Ein Beispiel: Wenn mir Coldplays Album "A Rush Of Blood To The Head" gefallen hat, behauptet Amazon, dann gefielen mir auch REM und U2. Na ja.

Jetzt hat das kalifornische Unternehmen Music Genome Project (MGP) Franzens Vision verwirklicht. MGPs Musikwissenschaftler haben nach eigenen Angaben in den vergangenen fünf Jahren die DNA der Popmusik seit den fünfziger Jahren katalogisiert. Insgesamt 400 Attribute haben die Klang-Genetiker identifiziert. Nach diesem Raster wurde die Musik von über 10.000 Künstlern archiviert, Song für Song.

Das Resultat dieser herkulischen Bemühungen ist Pandora.com , eine Art lernfähiges Internet-Radio. Das funktioniert so: Zunächst gibt der Hörer den Namen einer Band ein, die ihm gefällt. Anhand der Musikattribute sucht Pandora daraufhin andere Stücke heraus, die ins gleiche Raster fallen.

Musik als Erbsenzählerei

Die meisten Musikliebhaber werden spätestens hier schmerzverzerrt das Gesicht verziehen. Sie werden sagen: Lächerlich! Gute Songs besitzen eine Seele. Schöne Musik umgibt ein Fluidum, das sich mit Schablonen, Algorithmen und derlei Erbsenzählerei nicht einfangen lässt.

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Internet-Radio Pandora: Der virtuelle DJ

Kann schon sein. Aber Tatsache ist: Pandora funktioniert nicht nur, Pandora funktioniert hervorragend. Bei Eingabe von Coldplay bekomme ich zunächst "Turn" von Travis, danach "Words" von Daniel Harmann serviert. Pandora erklärt auf Wunsch, warum ein Lied ausgewählt wurde. Travis etwa wurde mir anempfohlen, weil "Sie nach allem, was Sie uns bisher gesagt haben, weiche rhythmische Synkopierung, gemischte akustische und elektronische Instrumente sowie akustische Rhythmusgitarre" mögen.

Den Passus mit der Synkopierung verstehe ich nicht ganz. Aber die vorgeschlagenen Stücke gefallen mir. Nicht immer entsprechen die Songs, die das Pandora-Radio auswählt, komplett meiner Erwartungshaltung. Aber es ist auch nichts dabei, was ich rundheraus grässlich finde. Außerdem kann ich bei einem Fehlgriff meines virtuellen DJs jederzeit eingreifen und ein Lied für gut oder schlecht befinden.

Ein Knaller nach dem anderen

Diese Benotungen speichert Pandora und lernt daraus. Bereits nach vier oder fünf benoteten Titeln ist die Auswahl verdammt gut. Pandora ist der wohl erste DJ des Planeten, der komplett uneitel seinen Job macht und sich ernsthaft für die Vorlieben seines Publikums interessiert.

Zu jedem der ausgewählten Songs legt Pandora einen virtuellen Radiosender an. Im Test lieferte mir das Webradio musikalische Offenbarungen am laufenden Band. Mein Nine-Inch-Nails-Sender spielte Billy Corgan, Ministry, Rob Zombie, Pigface, Godhead und ein halbes Dutzend andere grandiose Stücke mit krachenden Gitarren und zornigen Texten, von denen ich zuvor noch nie gehört hatte. Nach nur 90 Minuten hatte ich ein gutes Dutzend Spitzensongs entdeckt, die ich unbedingt haben muss.

Alle bereits abgespielten Lieder speichert Pandora automatisch in einer Liste, nebst Albumcover. Über Links zu mehreren Online-Musikshops lassen sich Songs direkt bestellen. Die Benutzeroberfläche ist hervorragend und erklärt sich von selbst. Installiert werden muss nichts, der Service läuft über den Web-Browser. Für eine saubere Verbindung benötigt man DSL, die Qualität der Songs ist ziemlich gut (für Technik-Freaks: Pandora streamt mit 128 Kilobits pro Sekunde).

Das iTunes des Internet-Radio

Fazit: Pandora ist grandios, es ist das vielleicht beste Musik-Tool seit der Erfindung des iPod. Umsonst ist der Spaß natürlich nicht. Nur die ersten zehn Stunden Pandora sind gratis, danach kostet der personalisierte Radiodienst 36 Dollar pro Jahr. Dafür kann man bis zu hundert eigene Sender anlegen und so viel Musik hören, wie man möchte.

Vielen wird das zu teuer erscheinen - zumal man die Songs weder herunterladen, noch auf CD brennen kann. Alles richtig. Bisher wäre ich auch nicht bereit gewesen, für irgendeinen der eher missratenen Musik-Streaming-Dienste im Internet auch nur einen Cent zu zahlen. Das gleiche galt für (Internet-)Radio (Deutschlandfunk ausgenommen).

Allerdings hatte mir bisher auch niemand einen Radiosender angeboten, der genau das bietet, was ich hören will. Drei Dollar monatlich für meine Hits - ohne Werbung und Gequatsche - das ist doch ein ziemlich guter Deal.

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