Deutschlands Durchschnittsfamilie Nackte Haut auf dem Wohnzimmer-PC
Thomas hat sich durchgesetzt. Das heißt, er hat sich geeinigt mit Sabine. Der PC steht jetzt im Wohnzimmer, auf einem kleinen Tischchen zusammen mit dem roten Ferrarimodell, das Thomas hartnäckig verteidigt gegen die Räum-Tendenzen seiner Gattin. Seine schwarze Kommode aus den Achtzigern musste dafür nun endlich weichen: Wie in jeder Ehe ist auch in der von Thomas und Sabine der Status Quo stets das Ergebnis sorgfältiger diplomatischer Verhandlungen. Dabei gibt es die beiden in Wirklichkeit gar nicht. Sie sind eine Ansammlung von Mittelwerten, Häufigkeitsgipfeln und qualitativen Forschungsergebnissen.
Thomas und Sabine sind Erfindungen der Werbeagentur Jung von Matt. Und dann auch wieder nicht - die beiden und ihr Sohn Alexander sollen gewissermaßen die hypothetische Inkarnation des deutschen Durchschnitts sein, Otto Normalverbraucher und seine Familie.
Die Familie Müller gibt es nicht - aber ihr Wohnzimmer. In einem der durchschnittlichen Normgröße entsprechenden Raum irgendwo im Reich der Werber. Mit auf durchschnittliche Normhöhe abgehängter Decke, und Durchschnittsgelb gestrichenen Raufaserwänden. Inmitten der eigentlich überdurchschnittlich hohen Glas-, Stahl- und Klinkerwände der Jung-von-Matt-Zentrale in Hamburg. Für Österreich und die Schweiz gibt es andernorts ähnliche Statistik-Museen. Die Werber sollen hier Einkehr halten und lernen, dass nicht alle da draußen von Flatscreens und Smartphones umgeben sind.
Ehe-Territorialfragen und der Startschuss fürs Netz
Das Durchschnittswohnzimmer hat eine leicht gruselige Wirkung, wenn man es zum ersten Mal betritt. Das Gefühl beschleicht einen, schon einmal in diesem Raum gewesen zu sein - das terrakottafarbene Sofa, die Wohnzimmerwand mit Buchenfurnier, der schwarze Deckenfluter, der blaue Veloursteppich, der mediterrane Aquarelldruck im weißen Rahmen an der Wand. Und nun, seit neuestem: das leise Fönen eines sichtbetonfarbenen PCs in der Ecke. Ton in Ton mit dem 19-Zöller, mit einem knallroten Formel-1-Ferrari als Bildschirmhintergrund.
"Die Territorialfragen zwischen den beiden sind sehr interessant", sagt Karen Heumann, Vorstandsfrau bei Jung von Matt über ihre virtuellen Hausgäste. Thomas hat eine schwarze Kommode aus seiner Jugend hergeben müssen, um den PC ins Wohnzimmer holen zu dürfen. Die größte Umwälzung im statistischen Häufigkeitsgipfel der Deutschen aber ist das Internet.
"Es geht los, der Startschuss ist gefallen", sagt Heumann. Das Netz ist im deutschen Mainstream angekommen, aus den Fluren, Kellerräumen und Kinderzimmern in die Wohnzentrale vorgerückt. Die Müllers haben sich für ihren Urlaub - den verbringen sie in Deutschland - im Internet informiert, aber dann doch offline gebucht. Bücher oder CDs haben sie auch schon mal im Netz bestellt. E-Mails verschicken die Müllers sowieso, und zu Recherchezwecken wird das Netz auch benutzt. Besonders Thomas, sagt Karen Heumann, hat "einen gewissen technischen Ehrgeiz" - die statistisch häufigsten Internetnutzer beschreiben sich selbst als "fortgeschritten" im Umgang mit dem PC.
Nutzungsverhalten schnellt in die Höhe
Sabine dagegen steht dem PC noch etwas skeptischer gegenüber - aber "sie wird sich das Ding sukzessive erarbeiten", glaubt Heumann. Die Urlaubsvorbereitungen seien da eine Art Initialzündung gewesen - es geht übrigens an die Ostsee, ein Besuch in Heiligendamm ist geplant. Nun ist die Entwicklung nicht mehr aufzuhalten - denn die Müllers haben einen Breitbandanschluss. "Sobald die Leute DSL haben, schnellt das gesamte Nutzungsverhalten in die Höhe", sagt Heumann.
Was "Web 2.0" bedeutet, wissen die Müllers nicht. Sie lesen keine Blogs, sie spielen keine Onlinespiele und sie benutzen auch keine Dating-Portale. Auch Nachrichten im Netz zu lesen, ist in Deutschland noch nicht Mainstream - wie auch eine eben veröffentlichte Studie wieder zeigte.
Sohn Alexander, der in diesen Tagen seinen 15. Geburtstag feiert, wird an all dem vermutlich einiges ändern. Auf seinem Wunschzettel steht ein PC-Spiel. Eine tragbare Spielkonsole hat er schon - aber für eine richtige Daddelmaschine der neuen Generation wird das Geld wohl nicht reichen. Auch das neue Handy, das er sich wünscht, wird Alexander nicht bekommen - dafür aber neue Klamotten und vielleicht ein Parfum, denn für solche Sachen beginnt er sich im Augenblick massiv zu interessieren.
Für Thomas dagegen bringt das Internet Zerstreuungsmöglichkeiten mit sich, die ihm bislang verschlossen waren. Der PC stand lange Zeit im Flur - nun, da er im Wohnzimmer steht, bleibt Thomas manchmal länger auf, wenn die Gattin schon im Bett ist. Und sucht nach nackter Haut. "Wir gehen davon aus, dass Thomas da gerne mal guckt", sagt Heumann und lächelt fein. Da kommt dann auch wieder der "gewisse technische Ehrgeiz" des häufigsten deutschen Ehemannes ins Spiel: Von einem Arbeitskollegen hat sich Thomas erklären lassen, wie man Cookies und Browsercache löscht - und so seine verräterischen Spuren aus den dunkleren Ecken des Netzes wieder vom Wohnzimmer-PC verschwinden lässt.