Online Communities Sweet and Sour
Lynn Bergan, Community Leader bei der Frauen-Website Ivillage, war überrascht, als ihr Supervisor sie vor drei Wochen fragte, ob sie zufrieden sei. "Ich hatte geglaubt, sie wären zufrieden mit meiner Arbeit, und wußte zuerst nicht, was los war", sagt die 43jährige aus Syracuse/New York. Sie widmet der Online-Gemeinschaft etwa zehn Stunden ihrer Freizeit pro Woche.
Was Lynn zu dem Zeitpunkt nicht wußte, war, daß sieben frühere Community Leader von America Online beim US-Arbeitsministerium eine Beschwerde eingereicht hatten. Die Beschuldigung: AOL beute seine 14.000 unbezahlten freiwilligen Mitarbeiter aus. Die Arbeitsbedingungen seien zu hart dafür, daß die Freiwilligen im Gegenzug bloß einen freien Internetzugang im Wert von 21.95 Dollar erhielten. Die vergrätzten Ex-AOLer, deren Zahl seither auf 40 angewachsen ist, wollen vom Ministerium ganz offiziell wissen, ob ihre Tätigkeit das "Gesetz über gerechte Arbeitsstandards" verletzt. Das Ministerium geht der Sache nach.
Die Nachricht ließ die Chefs von anderen Online-Gemeinschaften aufhorchen und führte - wie in Lynns Fall - zu besorgten Nachfragen. Neue Regeln, Einschränkungen, vielleicht sogar Bezahlung, für den Einsatz von Freiwilligen hätten unmittelbare Auswirkungen auf die Branche: Freiwillige sind das Rückgrat aller Internetgemeinschaften, von Geocities über Theglobe.com bis hin zu Microsoft Network. Die Freiwilligen spielen Gastgeber in den zahllosen Chaträumen, passen auf, daß niemand die Regeln verletzt, beantworten Fragen von Mitgliedern und kreieren neue Inhalte. Vor allem jedoch investieren sie Zeit, zum Teil richtig viel Zeit.
Kelly Hallissey, Hausfrau und Mutter aus Greensboro/North Carolina, zum Beispiel verbrachte zwischen 1994 und 1997 bis zu vierzig Stunden pro Woche online als Guide für AOL-Neulinge. Durch engagierte Helfer wie sie konnte AOL sich das Image "Internet für Dumme" erwerben, und nicht zuletzt deswegen ist die Firma heute mit 17 Millionen Mitgliedern der größte Internetservice-Anbieter der Welt. "Die Community Leader haben AOL zu dem gemacht, was es heute ist", sagt Kelly, jetzt Wortführerin der AOL-Rebellen.
Der Status der Freiwilligen im Netz ist ungeklärt: Freiwillig heißt zwar weiterhin freiwillig, und wie in der physischen Welt engagieren sich die Leute, weil es ihnen persönlich etwas bringt. Für die meisten ergibt sich der Einsatz aus ihren Hobbies. Doch nie zuvor haben Freiwillige für gewinnorientierte Unternehmen gearbeitet und waren fester Bestandteil eines Business Plans. Zwar ist umstritten, ob die Freiwilligen wesentlich zum Geschäftserfolg beitragen, doch die Zahlen sprechen für sich: AOL hat 12.000 Angestellte und 14.000 Freiwillige, Ivillage hat 200 Angestellte und 1.100 Freiwillige, Geocities hat 300 Angestellte und 1.800 Freiwillige. Besonders die Aktivitäten der Freiwilligen sorgen für die hohen Verkehrszahlen auf der Website, mit denen die wichtigen Werbekunden gelockt werden.
Die meisten Firmen wissen, was sie an ihrem Fußvolk haben. "Die Freiwilligen sind ein bedeutender Teil unseres Geschäfts", sagt Esther Loewy, Pressechefin von Theglobe.com. "Wir sind ein Gemeinschaftsnetzwerk, und schon der Name verrät, daß Leute sich engagieren müssen". Gemeinschaft ist das Schlüsselwort, mit dem die Internetfirmen ihre Praxis verteidigen. "Freiwilligenarbeit ist eines der zentralen Attribute des Internets", liest Jason Stell, Pressechef von Ivillage, aus einem kurzen, defensiven Statement zum Thema vor. Die Freiwilligen stünden voll hinter der "Mission, den Cyberspace zu humanisieren" und "Frauen die Hilfe zu geben, die sie brauchen".
Das Ulkige an dieser hochtrabenden Presseerklärung ist: Sie stimmt. Die Community Leader sind vor allem besorgt um ihre Foren und ihre Cyberfreunde - und nicht um ihren Lohn. "Ich ziehe große Befriedigung daraus, anderen Menschen zu helfen. Ich sehe meine Arbeit als Chance, Cyber Citizens zu treffen und Freunde rund um die Welt zu gewinnen", schreibt Neal Skrenes, 46, in einer E-Mail. Im wirklichen Leben ist er Lehrer in Wisconsin; im virtuellen "Tropics"-Viertel der Geocities ist er Community Leader und heißt Mr. Scuba.
Neal surft seinen Block, der aus 1.000 Homepages rund ums Thema Reisen besteht, jeden Tag für eine Stunde. Seiten, die verlassen aussehen oder gegen die Regeln verstoßen, meldet er seiner Chefin. Seiten, die besonders schön oder interessant sind, empfiehlt er weiter. "Ich sehe mich als eine Art Hausmeister, der versucht, seine Ecke in der virtuellen Welt sauber und zivilisiert zu halten", sagt Neal. Sauber, das heißt: Keine Pornos, keine Geschäftemacherei und keine persönlichen Verunglimpfungen.
Lynn Bergan, die das Message Board "Getting the job" bei Ivillage überwacht, verbindet das Hobby mit dem Nützlichen: Sie ist Jobvermittlerin von Beruf und bekommt durch ihre Online-Tätigkeit zusätzliche Kontakte und Ideen.
Die Gründe variieren, doch in einem sind die Freiwilligen sich einig: Bezahlung würden sie zwar nicht unbedingt ablehnen, aber sie arbeiten auch ohne. Eine Umfrage von Theglobe.com kam laut Loewy sogar zu einem noch krasseren Ergebnis: Die Mehrzahl würde das Angebot einer Entlohnung als beleidigend zurückweisen. "Was sie wirklich wollen, ist Bekanntheit innerhalb der Gemeinschaft", sagt Loewy. Anerkennung als "Community Leader des Monats", einen virtuellen Preis für die schönste Homepage oder einfach das durch viele E-Mail-Fragen generierte Gefühl, jemand Wichtiges zu sein - das sind die Süßigkeiten des Cyberspace.
Solche Illusionen haben die AOL-Rebellen längst aufgegeben. Sie sind weiterhin große Fans von Cyber Commmunities. Aber ihre Erfahrungen mit AOL haben sie gelehrt, daß das offizielle Gerede von Gemeinschaft nichts wert ist, wenn es hart auf hart kommt. "Das AOL-Management interessiert sich nicht für seine Freiwilligen. Sie zeigen keinen Respekt, keine Anerkennung. Und wenn Du Dich beschwerst, wirst Du gefeuert, selbst wenn Du jahrelang für sie gearbeitet hast", schäumt Kelly Hallissey, deren Zorn noch nicht verraucht ist, zwei Jahre, nachdem sie ohne Erklärung als "Sicherheitsrisiko" gebrandmarkt wurde und mit ihrem AOL-Zugang ihr Hobby verlor. Entgegen anderslautender Schlagzeilen geht es den Beschwerdeführern nicht um Bezahlung. "Ich will eine öffentliche Entschuldigung. Außerdem will ich, daß AOL seine Praktiken ändert. Es geht darum, wie sie die Leute behandeln und wie ihr System funktioniert", sagt Kelly, die auch überlegt, mit ihrem Fall vor Gericht zu gehen. Zu den Praktiken gehören Zeitkarten, um sicherzustellen, daß jeder Freiwillige sein Stundensoll erfüllt, ein Kontrollsystem, in dem Freiwillige sich gegenseitig im Auge behalten, und die Dokumentation der eigenen Tätigkeit. Als Community Leader hat man Anrecht auf vier Wochen Ferien im Jahr, anzutreten frühestens nach sechs Monaten im Dienst. Fernbleiben von einer Schicht muß angekündigt werden, sonst drohen Sanktionen bis hin zum Rausschmiß.
AOL argumentiert, diese Vorkehrungen seien bloß Formalisierungen der großen Internettradition des Freiwilligentums. Die Kläger hingegen sehen eine Ausbeutung gutwilliger Menschen. Und nicht nur die Form, sondern auch der Inhalt der Freiwilligentätigkeit nimmt bei AOL bisweilen das Ausmaß echter Arbeit an. "Ich habe genau dieselbe Arbeit verrichtet wie die Leute von der Forschungsabteilung, nämlich Hilfestellung beim Entfernen von Viren und anderer bösartiger Software von den Computern der Mitglieder", sagt Chris, der von 1996 bis März 1999 als Freiwilliger im AOL Virus Information Center gearbeitet hat. Das Arbeitsministerium wird feststellen müssen, ob eine Verwischung der Grenze zwischen Angestellten- und Freiwilligenarbeit stattgefunden hat und ein Präzedenzfall gegeben ist.
Während die AOL-Beschwerdeführer beanspruchen, primär um das Wohl der aktiven Community Leader besorgt zu sein, meint ein anderer Ex-AOLer, es gehe ausschließlich um persönliche Motive oder Geld. "Es riecht nach Rache. Und manche denken, sie hätten bezahlt werden sollen", sagt Bob, 44, der 1997 selbst gefeuert wurde. Er kennt die Kläger und die Klagen. "Das geht schon so seit anderthalb Jahren". Aber auch er findet die Untersuchung durch das Ministerium notwendig, es handele sich schließlich um eine "Grauzone". Doch Bob erwartet keine Wunder von der Untersuchung. "AOL wird niemals für diese Leute zahlen. Der Großteil der Freiwilligen bringt keine Einnahmen. Und Community Leader sind in vielen Fällen überflüssig. Sie sind ein Luxus: Für Internet-Neulinge ist es nett, sie zu haben, aber sie könnten es auch alleine lernen".
Ein alternatives Modell zur Freiwilligenarbeit ist das von Miningco.com. Die Firma, deren Angebot, "das Netz zu durchwühlen", sehr arbeitsintensiv ist, hat knapp 700 angestellte Guides. Tatyana Gordeeva ist Guide für Deutsche Kultur. Die Ukrainerin bekommt eine "symbolische" Summe pro Monat und darüberhinaus einen Anteil von den Werbeeinnahmen, die ihre Seite einbringt. Letzteres garantiert, daß die Guides selbst alles daran setzen, eine möglichst große Community um ihre Themenseite herum zu entwickeln und so die Verkehrszahlen von miningco.com zu erhöhen.
Wie die Freiwilligen ist Tatyana eine Ansprechpartnerin im Netz. Wie Neal und Lynn surft und chattet sie, hat einen Supervisor und Cyberfriends. Doch anders als Neal und Lynn sieht sie das Internet als Möglichkeit, Geld zu machen und kommt gar nicht erst auf den Gedanken, sich ausgebeutet zu fühlen. Das Geld sei manchmal ein Ansporn weiterzumachen, sagt sie. Für die Freiwilligen ist es schwerer in dieser Hinsicht: Ihr einziges Mittel gegen die Frustration ist eiserne Selbstdisziplin. Neal sagt sich immer, wenn Geocities mal wieder zu viel fordert: Freiwilligenarbeit ist zwar ein Hobby, aber ein ernsthaftes.