Online-Publishing Das Super-E-Paper

Mit "Livepaper" legt der mittelständische Entertainment Media Verlag ein neues Online-Publishing-Konzept vor, das in Sachen Interaktivität deutlich über Web und E-Paper hinausgeht. Gerade für Fachzeitschriften erweist sich das "Klickmedium" als ideal.

"Wenn Sie Fragen haben, rufen Sie an", sagt Ulrich Scheele, er sei zwar unterwegs, aber das mache nichts: "Jederzeit!"

Es ist nicht immer so, dass Verlagschefs so erreichbar sind. Aber Scheele rotiert in diesen Tagen, er trommelt und wirbt und knüpft Kontakte, damit man das Ereignis auch bemerkt. Es ist sein Ereignis: Er hat etwas Neues vorzustellen und er weiß, dass bei aller Publizität, die er mit seinen Zeitschriften erreicht, die breite Öffentlichkeit das trotzdem nicht unbedingt mitbekommen muss.

Denn Scheele produziert Fach- und Kundenzeitschriften. Sein Münchner Entertainment Media Verlag bringt Titel wie die "Musik Woche" heraus, "Blickpunkt: Film", "GamesMarkt", "Videowoche", "DVD&Video Markt", dazu "sechs, sieben Kundenzeitschriften". Zu allen Titeln gibt es Webseiten und obendrauf noch ein paar mehr, wie das kürzlich mit dem Lead-Award ausgezeichnete Kino.de. All das wird unterfüttert mit "der größten Datenbank der Branche".

Eine halbe Million Datensätze zu Filmen, CDs und anderen Medienträgern sind darin zu finden. Die Vermarktung dieser Wareninformationen an die Webseiten von eBay, Amazon, Sat.1, AOL, RTL, Weltbild und andere ist das zweite Standbein des Verlages, doch seine primäre Zielgruppe ist die "Fachwelt".

Am Freitag ging das neueste digitale Produkt des Verlages online , und das stellt seinen Nutzern so einige Bedingungen: Dick und schnell und DSL sollte die Leitung zum Web schon sein, auch der Rechner nicht zu schwachbrüstig, und vor allem ausgerüstet mit einem Browser mit installiertem Flash-Player ab Version 7.

Nur dann kommt man in den Genuss von "Livepaper".

Livepaper?

"Wir haben das bewusst nicht einfach E-Paper genannt", erklärt Scheele, "weil es einfach mehr ist."

E-Paper-Editionen, die ein Druckerzeugnis auch Online in gewohntem Design und hoher Darstellungsqualität abbilden, leisten sich immer mehr Verlage (auch der SPIEGEL). Letztlich sind E-Paper als Alternative oder Ersatz für das eigentliche Print-Produkt gedacht: Mit ihnen soll das Produkt überall in gewohnter Anmutung abrufbar sein. Irgendwann einmal, so denken sich das Medien-Visionäre, werden E-Paper den Vertrieb von Papierprodukten sukzessive ersetzen. Wer dann noch etwas in der Hand halten will, der greift zum qualitativ hochwertigen (und dann auch billigeren) Ausdruck, oder - besser noch - zum elektronischen Papier.

Denn eigentlich sind E-Paper auf mobile elektronische Lesemedien zugeschnitten, die es noch gar nicht zu kaufen gibt. Sie finden schon heute ihren Markt, doch der dürfte sich deutlich vergrößern, sobald erst auf "E-Ink" basierende, falt- oder rollbare Monitor-Medien zur Verfügung stehen. Die Zielvorstellung ist klar: Der interne Speicher eines eleganten, kleinen "Rollmonitors" hielte dann neben dem aktuellen SPIEGEL (plus morgendlicher Online-Updates), noch 10 bis 50 andere Zeitschriften und Zeitungen parat, abgesehen von ein paar Comics, Romanen und vielleicht Filmen zur relaxten Zerstreuung.

All das ist noch Science-Fiction, wohl aber nicht mehr lang. Eine Tochterfirma von Phillips bringt in diesem Sommer ein erstes E-Ink-Gerät auf den Markt, das freilich nur mit einem Minibildschirmchen von wenigen Inch Größe aufwarten kann. Trotzdem: Die Zukunft des elektronischen Papiers hat zweifelsfrei begonnen.

Scheeles Entertainment Media Verlag ist bereits einen Schritt weiter. "Mehr als E-Paper" sei sein Produkt. "Live" sei es, weil Leben drin sei - im Gegensatz zu den üblichen PDF-Dateien der E-Paper-Ausgaben.

Denn die Livepaper-Version der Zeitschrift "Musik Woche" ist von vorn bis hinten in Flash programmiert.

Da zuckt der Web-Purist zunächst, denn Flash ist so beliebt nicht: Das Programm wird gemeinhin dazu genutzt, Infografiken das Zappeln beizubringen, oder für allerlei Entertainment-Inhalte im Web. Das, entschieden die Münchner Fachzeitschriftenmacher, sei eigentlich ideal, wenn man vor allem über Film und Musik berichtet. "Die erste Idee", sagt Scheele, "hatten wir vor zwei Jahren. Der Durchbruch kam so vor 18 Monaten, als wir sahen: Ja, so könnte man es machen. Wir haben das Konzept dann hausintern mit einem 20-köpfigen Entwicklerteam umgesetzt."

Was genau der mittelständische Verlag (110 Angestellte) aus der Taufe hob, dürfte derzeit weltweit im Online-Publishing seines Gleichen suchen.

Auf den ersten Blick kommt Livepaper daher wie ein herkömmliches E-Paper, mit einigen kleinen Besonderheiten. Vorgegeben sind beispielsweise fixe Zoomstufen, die man einfach per Mausklick abrufen kann. Ein Klick, und die Seite zoomt heran; noch ein Klick, und man hat sie wieder als Übersichtsseite in Bildschirmgröße vor sich. Das "Blatt" lässt sich - wie beim PDF - hin- und herziehen. In der Kopfzeile finden sich Grundfunktionen wie Seitenausdruck, -versand, Hilfe und Volltextsuche. Durch Klicks in die oberen Ecken kann man "umblättern".

Im Einzelnen: Die Features und Möglichkeiten von "Livepaper". Weiter...

Der erste Hinweis, dass hier etwas anders ist, kommt als kleines Lautsprecher-Icon daher: Man kann dem Livepaper den Sound abdrehen, wenn man will.

Denn anders als ein PDF ist die Livepaper-Seite alles andere als statisch: Da ist im Sinne des Wortes Musik drin - und einiges mehr. Scheele: "So weit das irgendwie geht, sind die Inhalte durchgelinkt."

Und zwar zur "größten Datenbank der Branche", wie er sagt: CD-Besprechungen sind mit Sound-Icons versehen, und prompt bekommt man zu hören, worüber man gerade liest - als Halbminuten-Snippets. Das Bild einer Pressekonferenz trägt ein Filmsymbol, und natürlich kann man sich die Konferenz nach dem Klick selbst ansehen, statt "nur" darüber zu lesen. Interviews kommen auch mit Ton, der große Featurebericht über Podcasts bindet alle der erwähnten "Sendungen" direkt mit ein. Bilder von Personen sind mit biografischen oder sonstigen Hintergrundinfos versehen und - für eine Fachzeitschrift ist das nahe liegend - sogar mit den Adressdaten und Telefonnummern der Abgebildeten. Linklisten verweisen auf Webinhalte oder hinein ins Archiv.

Ist das alles gut?

Im ersten Augenblick ist es ungewohnt, aber direkt faszinierend. Das Livepaper erreicht einen Grad der so viel beschworenen Interaktivität, den man selbst im WWW meist vergeblich sucht. Der Verlinkungsgrad ist weit höher als auf herkömmlichen Webseiten: Möglich wird er nur dadurch, dass sich die meisten Links auf die hausinterne Datenbank stützen können und nicht erst mühselig zusammengesucht werden müssen. Scheele versichert, dass sich der redaktionelle Mehraufwand in Grenzen halte: "Da haben wir gezaubert." Der größte Teil des Aufwands liefe über das Content-Management-System, in dem Inhalte nach Eigenschaften vercodet vorlägen.

Zauberei ist das nicht, nur stringent: So entsteht die Linkliste zu Archivinhalten zum Thema "Artikel über EMI" dann fast "von selbst", wenn die entsprechenden Inhalte von der Datenbank als zusammengehörig erkannt werden. Von den Redakteuren verlangt das ein gerütteltes Maß an Disziplin - und so ganz ohne Mehraufwand läuft es auch nicht. Leicht wackelige Filmmitschnitte und professionellen Ansprüchen noch nicht ganz genügende Interview-Audiofiles deuten darauf hin, dass der Schritt zum "Multimedia-Reporter" durchaus eine Umstellung bedeutet.

Aber Schwamm drüber: "Natürlich gibt es da noch Bugs", sagt Scheele. Schließlich habe noch niemand ein Projekt in dieser Form durchgezogen. Und auf Nachfrage: "Ja, wir werden für jedes Objekt eine zusätzliche Kraft einstellen."

Die Livepaper-Version der "Musik Woche" ist so etwas wie ein verspäteter Betatest, denn auf einen solchen verzichtete Entertainment Media - auch, um das Projekt so lang wie möglich unter der Decke zu halten. Zunächst erhalten nur rund 5000 Abonnenten des Blattes einen für sie kostenlosen ständigen Zugang. "In einem zweiten Schritt", so Scheele, "wollen wir dann die anderen großen Objekte als Livepaper herausbringen." Und irgendwann im Laufe der nächsten zwölf Monate soll dann auch das große Publikum in den Genuss der neuen Technik kommen: "Wir planen die Herausgabe eines neuen B2C-Titels, der rein internetbasiert sein soll."

Geld verdient der Verlag mit diesem Aufwand vorerst nicht, auch wenn er das Livepaper-Konzept natürlich "als Dienstleistung an andere vermarkten" will. Scheele ist sich aber sicher, dass Livepaper ein logischer Schritt in der Entwicklung neuer, attraktiver Multimedia-Inhalte für das Web darstellt.

Auch aus Sicht des Redakteurs ist all das höchst interessant und hat das Potential, das Berufsbild noch einmal maßgeblich zu verändern: Wenn man etwa die Rezension einer CD im Hintergrund durch eben die besprochene Musik begleiten lässt, liest man auch den Text ganz anders. Das ist eine Chance, aber auch eine neue Herausforderung für Journalisten: Dass diese zu "Multimedia-Machern" mutieren sollen, die ihre "Zeugenschaft" durch audiovisuelle Informationen direkt mit dem Rezipienten teilen, wurde in den letzten zehn Jahren ja schon so oft bemüht, dass die Vision längst zur hohlen Phrase geronnen schien. Beim Livepaper bekommt man einen Vorgeschmack darauf, dass die Entwicklung des Online-Publishing wirklich noch nicht beendet ist.

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