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Die ersten Tweets über das Erdbeben kommen noch vor den seismischen Wellen: Unsere digitale Kommunikation wird immer rasanter, unmittelbarer, direkter - Microsoft und Google haben eigene Echtzeitsuchen. Christian Stöcker erklärt, wie "Hast du schon gehört"-Kommunikation das Web verändert.
"Haste schon gehört?": Das Echtzeitnetz basiert auf persönlicher Kommunikation

"Haste schon gehört?": Das Echtzeitnetz basiert auf persönlicher Kommunikation

Foto: Corbis

Es gibt einen Satz aus dem Mund eines unbekannten Jugendlichen, der seit seiner Erstveröffentlichung in der "New York Times" im März 2008 mehrere Male um die Welt geeilt ist. Der Satz soll in einer Marktforschungsfokusgruppe gefallen sein und treibt Medienunternehmern und Verlegern bis heute den Angstschweiß auf die Stirn. Er lautet, ins Deutsche übersetzt: "Wenn die Nachricht wichtig ist, wird sie mich finden."

"The news will find me" - das ist das Schreckensszenario aus dem Social Web für alle, die vom Filtern, Einordnen und Präsentieren von Nachrichten leben, vor allem also für Medienhäuser und Verlage.

Gleichzeitig ist der Satz das Versprechen des Social Web. Ein Versprechen, das nun Microsoft und Google zugleich bewogen hat, ihre Suchmaschinen stärker auf das auszurichten, was im Netz im Moment geschieht.

Das Internet ist längst kein passiver, stetig wachsender Informationsspeicher mehr - es ist ein lebendiger Organismus, in dem sich ununterbrochen Veränderungen und globale Gespräche abspielen, oft in Abhängigkeit von aktuellen Ereignissen. Wer das Netz sinnvoll nutzen will, das ist die Botschaft der Deals des Tages, kommt um diesen Echtzeitaspekt nicht mehr herum.

SPIEGEL ONLINE erklärt in fünf Thesen, wie das "Hast-Du-schon-gehört"-Netz der Zukunft aussieht:

Internetnutzer reden ständig über Nachrichten und Neuigkeiten

Tatsächlich verbreiten sich unter einem Teil der Internetnutzer Nachrichten und Neuigkeiten heute anders als noch vor wenigen Jahren. Über Status-Updates bei Facebook zum Beispiel. Längst schon schreiben die Nutzer der Community nicht nur Dinge wie "trinke gerade Kaffee" ins entsprechende Feld - sie kommentieren auch aktuelle Ereignisse, oft kombiniert mit einem Link zu einer Nachrichtenquelle. Sie weisen ihre Facebook-Freunde auf interessante Artikel, lustige Videos, faszinierende Fotostrecken irgendwo im Netz hin. Sie machen ihrem Ärger über eine eben irgendwo veröffentlichte Politikeräußerung Luft. Sie reißen Witze über das Ergebnis einer eben zu Ende gegangenen Bundesligapartie. Kurz: Sie reden über Nachrichten und Neuigkeiten.

Bei Plattformen wie Facebook und eben auch Twitter finden 24 Stunden am Tag übers Netz vermittelte Konversationen statt. Manchmal eher asynchron (das trifft vor allem auf Facebook zu), manchmal auch nahezu in Echtzeit - gewissermaßen ebenso schnell, als ob die Teilnehmer des Gespräches gerade gemeinsam am Tisch säßen oder zusammen im Aufzug stünden. Letztere Situation ist eine gute Analogie dafür, wie sich Twitter-Konversationen oft anfühlen: Es sind "Haste schon gehört?"-Gespräche, ein, zwei schnelle Witze werden eingestreut (und, wenn sie für gut befunden werden, kurz darauf weitererzählt). Und schon ist der Aufzug da, es macht "Bing!", jemand steigt aus, und das Gespräch ist vorbei. Wie im Aufzug treffen dabei auch mal Menschen aufeinander, die einander gar nicht oder kaum kennen.

Kaskaden des Weitererzählens - ein neuer Informationskanal ist da

Für Menschen, die in einer Community oder bei Twitter ein großes Netzwerk haben, kommt dabei an einem einzigen Tag ziemlich viel "Haste schon gehört?" heraus. Ein neuer Informationskanal ist entstanden, der mindestens gleichberechtigt neben den klassischen, sprich, von Massenmedien dominierten Kanälen steht. Je breiter und differenzierter das Netzwerk des einzelnen ist, desto relevanter sind die Informationen, die da vermittelt werden - und desto schneller erreichen ihn interessante Geschichten.

Durch Kaskaden des Weitererzählens können einzelne Links oder Informationen nun rasend schnell durch ein Netzwerk wandern - die Information reist umso schneller, je mehr Menschen sie für interessant halten und deshalb weiterreichen - "Retweeten" heißt das bei Twitter.

Deshalb verbreiteten sich Nachrichten wie die vom Flugzeug im Hudson River oder die vom Tod Michael Jacksons auf Twitter in rasantem Tempo - eine Botschaft, der von so vielen Menschen Relevanz zugemessen wird, hat es leicht im Mundpropagandaparadies der sozialen Medien. Für Menschen, deren Netzwerke gut sortiert sind, gilt heute tatsächlich: "The news will find me." Und zwar schneller, als man selbst die Nachricht finden würde. Denn irgendjemand bekommt irgendwo immer etwas mit, das einen selbst auch interessieren könnte.

Wer relevant bleiben will, muss das Tempo der Tweets mitmachen

Die US Geological Survey, die auch für Erdbebenwarnung zuständig ist, hat sich einen "Twitter Earthquake Detector" zugelegt, mit dieser Begründung: "Soziale Internettechnologien versorgen die Öffentlichkeit mit anekdotischer Information über Gefahren durch Erdbeben", und zwar schneller als offizielle Quellen. Menschen vor Ort könnten "über diese Technologien Informationen innerhalb von Sekunden öffentlich machen".

Ein Twitter-Topmanager namens Santosh Jayaram berichtete im Mai 2009 , die Nachricht von einem Erdbeben in Kalifornien habe das Unternehmenshauptquartier schneller erreicht als die seismischen Wellen selbst. Das Entwicklerteam habe eine plötzliche Zunahme von Tweets mit dem Thema "Erdbeben" bemerkt - Sekunden später begann ihr eigenes Gebäude in San Francisco zu wackeln. Das Epizentrum lag 100 Kilometer weit entfernt.

Google-Spitzenfrau Marrissa Mayer erklärte die eigene, noch nicht gestartete Twittersuche mit den Worten: "Für manche schnell aufsteigenden Suchanfragen gibt es einen Zeitraum, wenn es über das Thema bereits Tweets gibt, aber die definitive Nachrichtenquelle noch gar nicht aufgeschrieben worden ist."

Diese Art von Tempo und Relevanz ist für Suchmaschinen, wollen sie ihren Status als das zentrale Einfallstor ins Internet behalten, nicht nur hübsches Beiwerk - sondern etwas absolut Zentrales.

Links in Tweets sind die wichtigste Währung des Echtzeit-Webs

Googles Siegeszug begann mit der einfachen Idee, die Relevanz einer Web-Seite auch daran zu messen, wie oft sie verlinkt wird. Eine Seite, auf die viele andere Seiten verweisen, muss ja irgendetwas haben, was Menschen interessiert. Das ist ein Kernpunkt der Suchmaschinenlogik. Warum sollte für all die Hunderttausenden von Links, die Menschen nun täglich in Tweets und Status-Updates integrieren, nicht das Gleiche gelten?

Die in den USA bereits zugängliche Bing-Twittersuche unterscheidet ihre Resultate folgerichtig in "Most recent Tweets" (das Neueste zuerst), und "Top links shared in Tweets": also das aktuell Wichtigste, Meistzitierte zuerst. Zudem gewichtet Bing Tweets auf Wunsch nach "Relevanz" - die allerdings bemisst sich derzeit ausschließlich an der Zahl der Follower, die einem Twitterer zuhören. In Sachen Tweets und Relevanz ist das letzte Wort wohl noch nicht gesprochen - derzeit jedenfalls wäre eine Einlassung von Ashton Kutcher (3,8 Millionen Follower) nach dieser Logik bedeutsamer als eine Eilmeldung von CNN (@cnnbrk: 2,8 Millionen Follower).

Die Funktion "Top links in Tweets" ist ohnehin die wohl ungleich wichtigere: In 140 Zeichen werden selten wirklich welterschütternde Erkenntnisse und Neuigkeiten zu einem bestimmten Thema vermittelt. Die aggregierte Masse all dessen aber, worauf Internetnutzer weltweit verweisen, kann auf völlig neue Art Aufschluss darüber geben, was Menschen rund um den Globus derzeit bewegt und interessiert.

Das neue, schnelle Netz basiert auf Vertrauen unter Freunden

Informationen fließen im Echtzeitinternet nicht nur schneller. Sie werden auch mit einer persönlichen Note versehen. Eine Nachricht, die einem ein guter Freund weiterreicht, wird automatisch als relevanter erlebt als eine, von der man auf anderem, weniger persönlichem Weg erfährt. Google hat deshalb eben auch noch eine sogenannte "Social Search" vorgestellt. Wie Google-Managerin Marrissa Meyer bei einer Konferenz in Kalifornien mitteilte, soll man sich unter bestimmten Bedingungen in seine Suchergebnisse auch passende Ergebnisse aus dem eigenen digitalen Freundeskreis einblenden lassen können. Wer nach "Fahrrad mit Nabenschaltung" sucht, könnte dann unter Umständen nicht nur auf die üblichen Händlerseiten stoßen, sondern auch auf das Facebook-Status-Update eines alten Freundes, der sich so ein Rad gerade zugelegt hat. Oder auf einen Blogeintrag eines Bekannten zum Thema. Damit das funktioniert, muss man allerdings ein eigenes Google-Profil anlegen und den Suchmaschinisten gestatten, auf die eigenen Freundesnetzwerke bei Community-Plattformen etc. zuzugreifen.

Microsoft hat über die angekündigte Integration von Facebook-Inhalten in Bing bislang noch nicht viel verlauten lassen. Es könnte aber gut sein, dass die "Social Search"-Arbeitsgruppe von Microsoft mit den Facebook-Inhalten Ähnliches vorhat wie Google mit seiner "Sozialen Suche". Auch hier könnten Informationen aus dem eigenen Bekanntenkreis bevorzugt dargestellt werden. Facebook-Status-Updates lassen sich prinzipiell ebenso behandeln wie Tweets - allerdings müssen Facebook-Nutzer der Veröffentlichung explizit zustimmen, was bislang nur eine Minderheit tut. Man kann also damit rechnen, dass die Riesen-Community ihre Nutzer in Zukunft verstärkt zu mehr Öffentlichkeit drängen wird - was Datenschützer einmal mehr in Sorge versetzen dürfte.

Das "Hast Du schon gehört?"-Internet jedenfalls, da scheint man sich in Redmond und Mountain View einig zu sein, ist das nächste große Ding.

Das gilt übrigens auch dann, wenn weiter wie bisher nur ein kleiner Teil der Internetnutzer dabei mitmacht. Hier gilt das gleiche wie für Verlinkungen, Wikipedia und so viele andere Aspekte des sozialen Netzes: Auch wenn sich nur fünf Prozent aktiv beteiligen - profitieren können alle.

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