Alkoholismustherapie Wie Shelly in "Second Life" dem Wodka widersteht
In ihrem ersten Leben war Shelly (Name von der Redaktion geändert) oft betrunken. Vor der Hochzeit ihrer Nichte hatte sie eine halbe Flasche Wodka hinuntergeschüttet und ein starkes Beruhigungsmittel genommen. Shelly saß in einem weißen Pavillon, ihr Baby auf dem Schoß, und dämmerte der Zeremonie entgegen. Plötzlich rutschte sie vom Stuhl, das Baby fiel zu Boden. Jemand griff sie am Arm und setzte sie in ein Taxi. Shelly blickte auf und sah ihre Mutter. Shelly schubste sie weg. Am liebsten, sagt sie, hätte sie weitergetrunken, so lange bis sie sich einfach auflöst.
In ihrem zweiten Leben sitzt Shelly oft am Meer. Vorne an der Brandung, wo das Wasser so eben die Füße berührt. Sie hat einen immerjungen Körper, in der Ferne kreischt eine einsame Möwe. In der Nähe flackert ein Feuer in einem Steinkreis. Der Wind trägt Funken bis ans Meer. In ihrer Pixelhand hält Shelly ein Limonadeglas. Sie könnte ewig dort sitzen und weitertrinken. Das Glas wird niemals leer.
Seit ihrem 16. Lebensjahr war Shelly Alkoholikerin. Seit einem Jahr macht die heute 44-Jährige eine Therapie der besonderen Art: Sie ist Patientin der Accelerated Recovery Centers, der ersten Alkoholikerhilfe, die die Online-Welt "Second Life" in ihr Therapiekonzept integriert. Patienten werden in Atlanta und auf der virtuellen Insel Identity Island betreut. In "Second Life" führen sie Einzel- und Gruppengespräche und durchlaufen spezielle Trainingsprogramme, in denen sie lernen, auch in Stresssituationen dem Alkohol zu widerstehen.
Seit neun Monaten treffen sich rund 100 Alkoholiker und ein Dutzend Psychologen zu Gesprächen auf Identity Island. Die Ergebnisse der Testphase will die Firma demnächst veröffentlichen. Nach Angaben von Accelerated Recovery deutet vieles darauf hin, dass die Einbindung virtueller Welten Suchttherapien erheblich verbessern kann.
Shelly schlüpft in ihre Flip-Flops und verlässt den Pixelstrand. Sie geht einen Steinweg hinauf, vorbei an Laternen, Birken, gelben Büschen, und betritt ein großes Haus. In einem Zimmer stehen im rechten Winkel zueinander zwei braune Ledercouches, davor ein Holztisch, darauf eine seltsame Bronzestatue. Auf einer der Couches sitzt ein Avatar ein Pixelmensch schlank, braungebrannt, mit schwarzen langen Haaren. "Hallo Shelly", sagt der reale Mensch hinter dem Avatar. "Herzlich Willkommen zur Therapie."
Sünden durch einen Vorhang beichten
Das Zimmer mit der Bronzestatue gibt es wirklich. Shelly sieht das originalgetreue Abbild eines Therapieraums in Atlanta. Der Mann hinter dem Avatar ist David Stone, Geschäftsführer und Gründer der Firma Accelerated Recovery und seit über 20 Jahren praktizierender Psychologe. Er sieht seinem Avatar verblüffend ähnlich, ebenso wie Shelly dem ihren.
Aus dieser Ähnlichkeit entsteht ein Spannungsfeld zwischen Nähe und Ferne: Einerseits sind sich Patient und Therapeut virtuell nah, sprechen in vertrauter Umgebung, blicken in vertraute Gesichter. Andererseits sind sie sich körperlich fern, wodurch es leichter ist, über Intimes zu reden. "Es ist wie bei der katholischen Beichte", sagt Stone. "Man gesteht seine Sünden durch einen Vorhang."
Wie bei der Beichte oder einem realen Therapiegespräch sind die Treffen in "Second Life" zudem absolut vertraulich. Nach Identity Island führt nur ein Weg: Man wird von Accelerated Recovery persönlich dorthin gebeamt. Selbst für Linden Lab, die Erschaffer von "Second Life", ist das Areal tabu.
Shelly setzt sich auf die braune Couch, dem Therapeuten schräg gegenüber. Stone lehnt sich zurück, der Oberkörper seines Avatars verschwindet halb im Pixelleder. Den Rücken durchgedrückt, die Hände auf die Oberschenkel gestemmt, erzählt Shelly von ihrem Absturz auf der Hochzeit.
Wie Shelly im "Second Life" neuen Lebensmut schöpft
Shelly berichtet, wie sie einen Tag vor der Hochzeit wieder mit dem Trinken angefangen hatte, weil sie erfuhr, dass sie dort ihren Bruder wiedersehen würde. Wie sie ihrem Bruder Vorwürfe machte, weil er seine Frau betrügt, und er Shelly dafür Schläge androhte. Sie erzählt, wie elend sie sich nach der Hochzeit fühlte, wie sie weitertrank, weil sie sich schämte, und wie sie sich dadurch noch elender fühlte. Wie die Familie Shelly für alles die Schuld gab und wie sie glaubte, Schuld zu sein, obwohl vieles gar nicht ihr Fehler war.
Ein halbes Dutzend Mal hörte Shelly mit dem Trinken auf, ein halbes Dutzend Mal fing sie wieder damit an. So ergeht es den meisten Alkoholikern: Das National Institute on Alcohol Abuse and Alcoholism der USA schätzt, dass 65 Prozent der US-Alkoholiker irgendwann rückfällig werden, die meisten noch im ersten Jahr nach der Therapie. In Deutschland liegt die geschätzte Rückfallquote bei 50 Prozent.
Volker Weissinger, Geschäftsführer des Fachverbandes Sucht e.V. räumt virtueller Therapie das Potential ein, die Rückfallquote zu senken - obwohl er der Plattform "Second Life" generell kritisch gegenübersteht. "Die meisten Alkoholiker werden rückfällig, sobald sie versuchen, sich wieder in den Alltag einzuleben", erläutert er. "Es ist wichtig, dass ihnen in Stresssituationen schnell geholfen wird. Eine virtuelle Anlaufstelle, in der Patienten orts- und zeitunabhängig Hilfe finden, wäre da ein guter, zusätzlicher Baustein."
Schocktherapie im Pixelflugzeug
Shelly macht auf Identity Island ausschließlich Gesprächstherapie, die virtuelle Welt bietet aber noch ganz andere Möglichkeiten der Therapie: Auf Identity Island gibt es zum Beispiel ein Pixelflugzeug, in das Shelly steigen könnte. In seinem Inneren dröhnen die Turbinen. Lampen flackern. Schwere Turbulenzen lassen den Boden beben, Passagiere werden unsanft in die Sitze gepresst. Vor dem Cockpit steht eine lächelnde Stewardess. Wer sie mit der rechten Maustaste anklickt, bekommt einen Beruhigungsdrink spendiert: Whiskey, Bier, Wodka, irgendwo zwischen Alkoholika versteckt auch Limonade.
Während ihre Avatare durch virtuelle Turbulenzen fliegen, liegen die Patienten in stark vibrierenden Ledersesseln. Sie tragen Spezialbrillen, die ihnen die virtuelle Welt direkt auf die Netzhaut projizieren. "Das Ergebnis ist schockierend echt", sagt Psychologe Stone. "Und es hat einen großen therapeutischen Wert. Wir können Patienten Extremsituationen durchleben lassen, in denen viele wieder zur Flasche greifen. Sie können so lernen, auch in schwierigen Momenten dem Alkohol zu widerstehen."
Shelly hat seit zwei Jahren keinen Alkohol mehr getrunken. Vor einiger Zeit schlenderte sie mit Bob, einem anderem Patienten, einen Steinweg hinauf. In der Ferne rauschte leise das Meer. Shelly und Bob setzten ihre Avatare in einen Springbrunnen hinein. Nach einer Weile merkten sie, dass sie nicht wieder hinauskamen. Erst lachten sie über ihr Missgeschick, dann schämten sie sich ein bisschen. Jeden Moment könnte sich ihr Therapeut vor ihnen materialisieren, und was sollte der dann wohl denken?
Eine Stunde unterhielten sie sich, über Therapie, Kinder und einen möglichen Fluchtweg aus dem nassen Pixelverließ. Dann entdeckte Bob den Ausweg: Er drückte eine Taste, und sein Avatar hob vom Boden ab. Shelly tat es ihm nach und begann zu schweben. Gemeinsam flogen sie davon.