Alltagsmythen Kanonenfutter fürs Geflügel-Geschütz
Hamburg - Passagierjets sind zum Missvergnügen von Piloten nicht allein am Himmel. Vögel gibt es da auch noch, und die sind mitunter eine Gefahr für fliegende Menschen. Bei Geschwindigkeiten von mehreren hundert Stundenkilometern wird das Federvieh bei der Kollision mit einem Flugzeug zum Geschoss, das schon so manchen Flieger abstürzen ließ.
Die US-Luftfahrtbehörde FAA (Federal Aviation Administration) stellte sich dem Problem und baute ein Hühner-Katapult, um die Festigkeit der Cockpitscheiben unter möglichst realistischen Bedingungen zu testen. Die Geflügel-Kanone ist authentisch: Die FAA benutzt sie, die US-Luftwaffe ballert ihr Geflügel gar mit einer Geschwindigkeit von fast 650 km/h auf die Kanzeln ihrer Kampfflugzeuge.
So weit, so grässlich.
Im Januar 1996 aber meldete "Feathers", das offizielle Magazin der kalifornischen Geflügelindustrie, dass britische Eisenbahningenieure sich von der FAA die Hühnchen-Schleuder (im Geflügelschützen-Jargon auch "Rooster Booster" genannt) geborgt hätten - um das Glas einer neuen Hochgeschwindigkeits-Lokomotive zu testen.
Hühnchen schockt Briten
Sie zielten, schossen - und erschauderten. Auf seinem letzten Flug zerschmetterte das Hühnchen die Windschutzscheibe der Lok, zerriss die Instrumententafel, bohrte sich durch den Sitz des Lokführers und blieb in der Wand des Cockpits stecken. Wahrhaft geschockt riefen die verwirrten Briten bei den amerikanischen Luftfahrtingenieuren an. Ob sie denn auch alles richtig gemacht hätten, wollten sie wissen. Die FAA-Experten nahmen den Test unter die Lupe und hatten am Ende einen wertvollen Tipp parat: Die Kollegen von der Insel sollten es bei der nächsten Kanonade mit einem aufgetauten Huhn versuchen.
Die "Feathers"-Geschichte, wiewohl schon viele Jahre alt, schaffte es sogar in deutsche Tageszeitungen, allerdings als Anekdote aus der Realität. Die betreffenden Blätter befinden sich in guter Gesellschaft: Laut Snopes.com, der Referenzseite für Alltagsmythen, gab selbst der ehemalige Nato-Oberbefehlshaber für Europa Wesley Clark die Geschichte vom Glucken-Geschütz in mehreren Reden als Tatsachenbericht zum Besten.
Die anglo-amerikanische Hühner-Kanonade aber ist eher eine besonders zählebige "urban legend" nach Art der Spinne in der Yukkapalme. Zudem mutiert die Story offenbar regelmäßig - je nachdem, wer dumm dastehen soll. Laut Snopes.com trifft es mal die Briten, mal die Franzosen, manchmal auch die Amerikaner selbst. In einem 1988 in Australien erschienenen Buch über Alltagsmythen etwa beweist das gefiederte Projektil die Einfalt amerikanischer Ingenieure, die ein tiefgefrorenes Exemplar der Gattung Gallus domesticus in eine laufende Turbine schießen. Mit allen unangenehmen Folgen.
Eisig, halbgefroren oder aufgetaut?
Vielleicht aber, spekuliert man im Netz, ist das Verschießen von gefrorenem Geflügel gar nicht mal so dumm. Denn was einem fleischigen Eisblock widersteht, sollte einem Vogel im Naturzustand erst recht standhalten können. Auch Halbgefrorenes könnte sinnvoll sein: Um etwa zu simulieren, wie ein Vogel sich im Angesicht des harten Aufpralls versteift.
Die Rache der Amerikaner auf die Eisvogel-Retourkutsche folgte laut Snopes.com im Jahr 1994. In einer neuen Version der Geschichte ließen sie britische Flugingenieure die Kanone mit einem gefrorenen Hühnchen laden und dann in die Kantine verschwinden, um dem Geflügel Zeit zum Auftauen zu geben. Als die Briten zurückkamen, stellten sie sich hinter ihre Schutzmauer, machten die Hochgeschwindigkeitskameras bereit und feuerten das Huhn (Kanonier-Jargon: "Pullet Bullet") ab.
Fleischiges Doppelgeschoss
Normalerweise sollte das Chicken an der Glaskanzel zu Nuggets zerbröseln und allenfalls eine hässliche Beule hinterlassen. Dieses Mal aber zerbarst die Scheibe unter ohrenbetäubendem Lärm. Den abermals geschockten Briten flogen die Splitter um die Ohren. Als sich der Schreck gelegt hatte, überprüften sie die Kanone. Kein Befund.
Dann sahen sie sich die Aufnahmen ihrer Hochgeschwindigkeitskameras an. Das Huhn, stellte sich in der Geschichte heraus, hatte unverhofft Gesellschaft bekommen. Während die Bastler in der Kantine saßen, war auch die Laborkatze hungrig geworden - und zum Hühnerlutschen ins Kanonenrohr geklettert.