Alun Anderson Der größte Pornograph ist das Netz

Alun Anderson: Zusammenhänge finden in der Flut der Bits
Foto:Das Internet hat vielleicht nicht die Funktionsweise meines Gehirns verändert, aber wenn man "Denken" so versteht, dass es sich auf die Interaktion bezieht zwischen dem, was im eigenen Gehirn abläuft, was im Gehirn anderer Menschen geschieht, und dem, was in der eigenen Umwelt passiert, dann verändert das Internet alles. In meinem Arbeitsbereich eines Schriftstellers und Journalisten ist "die Veränderung des eigenen Denkens" jetzt eher ein Imperativ als eine Möglichkeit: Wenn man sich nicht verändert, riskiert man, ausgelöscht zu werden.
Leistungsfähige neue Techniken wirken sich unvermeidlich wie ein zerstörerisches Feuer auf ältere Gepflogenheiten aus. In dem Maße, wie Werbeeinnahmen zum Internet hin entschwinden, stellen Zeitungen und Zeitschriften fest, dass sie die Operationen der Informationssammlung, die die Öffentlichkeit nicht direkt bezahlen will, nicht mehr subventionieren können. Der Beruf eines Zeitungsjournalisten beginnt so altmodisch zu erscheinen wie der eines Schornsteinfegers. Viele der gedruckten Zeitungen und Zeitschriften, die diese Journalisten beschäftigen, überleben das Internet vielleicht gar nicht.
Das Buch verschwand in der Mitte des 21. Jahrhunderts
Das Buch ist wahrscheinlich ebenfalls zum Verschwinden verurteilt. Ich stelle mir einen Wikipedia-Eintrag aus dem späten 21. Jahrhundert vor, der lautet:
BUCH: Ein Format zur Vermittlung von Informationen, das aus einem einzelnen, fortlaufenden Text besteht, der über ein eigenständiges Thema geschrieben wurde oder eine bestimmte Geschichte erzählt, im Durchschnitt 100.000 Wörter enthält und von einer einzelnen Person verfasst wird. Bücher wurden zwischen der Mitte des 15. Jahrhunderts und dem frühen 21. Jahrhundert auf Papier gedruckt, erschienen aber nach 2012 häufiger in elektronischer Form. Das Buch verschwand in der Mitte des 21. Jahrhunderts weitgehend, als deutlich wurde, dass es nie mehr als eine begrenzte, durch die Drucktechnik beschränkte Realisierung von Texten und Grafiken jeglicher Form war, die endlos in andere einfließen konnten. Sobald es von den Scheuklappen der Drucktechnik befreit war, erblühten im frühen 21. Jahrhundert neue Arten des Geschichtenerzählens in einem außergewöhnlichen Ausbruch von Kreativität. Sogar schon vor dieser Zeit war die Verwendung von Büchern zur Erklärung bestimmter Fachgebiete (siehe Lehrbuch) rasch ausgestorben, da es immer offensichtlicher wurde, dass es einer einzelnen, isolierten Stimme an Autorität, Weisheit und Breite fehlte.
Diese Veränderungen und traumhaften neuen, kreativen Chancen, die es schon gibt oder die sich gerade ergeben, sind die äußere Manifestation einer Veränderung unseres Denkens - während wir uns wegbewegen von der Informationsknappheit, einem geringen Grad zwischenmenschlicher Kommunikation und mangelnden Rückmeldungen über die Bedeutsamkeit dessen, was wir sagen, hin zu einem Überfluss von Informationen und einem hohen Grad von Interaktion und Rückmeldungen.
Als Journalist kann ich mich noch daran erinnern, dass mein wichtigster Besitz ein Notizbuch mit "Kontakten" war. Die Informationen, die ich ihnen abrang, wurden mit Hilfe von ein paar engen Kollegen aufbereitet. Das gehört der Vergangenheit an. Dank des Internets, der Suchmaschinen und der Millionen von Organisationen, Interessengruppen und Einzelpersonen, die kostenlos Informationen produzieren, ist schon fast alles da draußen und jedermann zugänglich.
Alles, was ich schreibe, wird bald modifiziert
Meine Arbeit besteht nicht im Ausgraben von Informationen, sondern darin, den roten Faden zu liefern, der diese Informationen miteinander verbindet. In der Flut der Bits kommt es auf die Suche nach dem größeren Zusammenhang an. Man findet nicht mehr Dinge, sondern ihre Bedeutung heraus. Diese neue Art des Denkens ist nicht ganz leicht. Selbst das mächtige Ministerium für Heimatschutz konnte die einzelnen Steinchen bezüglich eines Vorfalls, der sich kürzlich ereignet hat, nicht miteinander verbinden, als verschiedene Informationsbruchstücke über einen jungen nigerianischen Radikalen auftauchten. Infolgedessen wurde ein mit Passagieren vollbesetztes Flugzeug beinahe vom Himmel gesprengt.
Um gute Arbeit zu leisten, denke ich nicht nur gemeinsam mit einigen wenigen Kollegen; ich habe meine Gedanken von einem festen Ort entbunden und verbreite sie elektronisch über die ganze Welt. (Der Heimatschutz sollte wahrscheinlich dasselbe tun.) Mit Hilfe des Internets entwickeln sich meine Gedanken dadurch, dass ich sie mit anderen teile, die ein ähnliches Interesse haben; ich unterhalte virtuelle Ideenfreundschaften mit einer großen Anzahl von Leuten, denen ich wahrscheinlich nie begegnen werde und deren Alter, Hintergrund und Geschlecht ich nicht einmal kenne. Ihre Großzügigkeit ist entzückend. Alles, was ich schreibe, wird bald modifiziert. Ich denke nicht allein. Vielmehr steuere ich ein globales Gespräch, dem das Web Gestalt gibt.
Das Internet ist überflutet mit Sex
Weder Zeitschriften noch Bücher in fester, physischer Form sind geeignet, diesen Fluss zu erfassen, worin ein Teil des Grundes dafür liegt, dass ihre Zukunft ungewiss ist. Die Überlebenden unter ihnen könnten jene sein, die in ihrer Körperlichkeit frohlocken - in ihrer Existenz als echte Gegenstände. Die körperliche Schönheit wird gemeinsam mit einer virtuellen Welt erblühen. Ich freue mich auf eine Wiedergeburt von Zeitschriften, die sich so anfühlen, aussehen und riechen, dass es ein Vergnügen sein wird, sie in der Hand zu halten.
Das Wort "Vergnügen" eignet sich, um nun die Richtung zu ändern. Das Internet mag vielleicht mein Denken im zerebralen Sinne verändern, aber es ändert wohl das Denken der Welt noch in einem weitaus physischeren Sinne. Das Internet ist überflutet mit Sex. In wenigen Stunden kann eine arglose Person mehr von den sexuellen Vergnügungen und Perversionen und außerdem in einer größeren Anzahl von Nahaufnahmen sehen, als ein Wüstling des 18. Jahrhunderts in seinem ganzen Leben, das verbotenen Begegnungen gewidmet war, erfahren konnte. Das Internet ist die größte Sex-Bildungsmaschine - oder der größte Pornograph -, die je existierte. Nachdem ich an einer moslemischen Universität gelehrt habe, wo die Sturzflut von Internetsex ein heißes Thema war, würde ich dessen Einfluss auf traditionelle Gesellschaften nicht unterschätzen. Es gibt die Redensart, dass der Rock and Roll zum Zusammenbruch der Sowjetunion geführt habe; nachdem einmal das sowjetische Unbewusste kolonisiert worden war, folgte der politische Zusammenbruch leicht nach. Die Flut völlig unzensierter Bilder sexuellen Vergnügens, die jeden Winkel der Welt erreicht, erschüttert gewiss das Denken junger Männer und Frauen in den konservativen Gesellschaften, in denen ich gearbeitet habe. Wohin die so entfesselten, widersprüchlichen Gefühle führen werden, kann ich nicht sagen.