Amok-Kult Wie junge Menschen Gewalttätern im Netz huldigen

Im Netz bewundern Nutzer Amokschützen wie David Sonboly aus München, fachsimpeln auf YouTube oder der Spieleplattform Steam über Gewalttaten. Einblicke in eine abgründige Szene.
Amoktatort in München

Amoktatort in München

Foto: CHRISTOF STACHE/ AFP

Die Manöverkritik aus der Szene lässt nicht lange auf sich warten. "Amoklauf bei Mcces, und so wenig Kills", schreibt ein Nutzer auf Twitter, einen Tag nachdem David Sonboly vor einer Münchner McDonald's-Filiale das Feuer eröffnet und neun Menschen getötet hat. "Und erzählt mir jetzt nicht, dass die Speckschwarten weggelaufen sind."

Auch Sonboly selbst hatte über Amokläufe geschrieben: Unter dem Namen "Hass" ließ er auf der Spieleplattform Steam wissen: "Tim K. ist unvergessen." Man kann das als Heldenverehrung interpretieren, Tim K. war der Amokläufer von Winnenden. Und nach allem, was man weiß, hat Sonboly K. nachgeeifert, er soll sogar an den Tatort gereist sein.

Nun, anderthalb Wochen nach München, gibt es auch schon ein Sonboly-Profil auf Steam. "Hat als Schusswaffenspezialist in München gearbeitet", ist darin zu lesen. Nur ein schlechter Scherz? Vermutlich. Tatsächlich aber findet sich im Netz eine Szene zusammen, die mit Amokschützen sympathisiert, ihnen sogar huldigt.

Sonbolys Tat und deren Vorgeschichte im Internet werfen ein Schlaglicht auf den Kreis derer, die online Amokläufe nachspielen und den Tätern virtuell nacheifern. Man schwelgt in Gewaltfantasien, kokettiert zumindest mit künftigen Morden.

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Spieleplattform: Was ist eigentlich Steam?

Columbine-Amoklauf in den USA 1999 als Startpunkt

"Es hat sich eindeutig gezeigt, dass es Orte gibt, an denen sich Leute treffen, die sich richtig für Amokläufe interessieren, im Sinne einer Identifizierung mit den Tätern", sagt Jens Hoffmann, Leiter des Instituts Psychologie und Bedrohungsmanagement in Darmstadt. "Das ist ein Phänomen, das wir seit dem Columbine-Amoklauf kennen."

Viele der Äußerungen, die sich im Netz finden lassen, sind wohl geschmacklose Witze und Provokationen von Jugendlichen, vermeintlich anonym. Doch Hoffmann sagt: "Es gibt einige Amoktäter, die vor ihren Taten in solchen Gruppen auch auffällig waren." Die Ermittlungen nach der Amoktat von München bestätigen seine Einschätzung.

"Wir wussten über seine früheren Amok-Fantasien Bescheid"

Wie der SPIEGEL berichtete, wurde kurz nach Sonbolys Tat ein 15-Jähriger in Gerlingen bei Ludwigsburg wegen Amokverdachts festgenommen. Er war, wie auch Sonboly, Mitglied diverser solcher Online-Gruppen. Per Chat hatten sich Sonboly und der andere Junge über Amokläufer ausgetauscht. Als "Diabolic Psychopath", als "diabolischer Psychopath", hatte der 15-Jährige auf Instagram Fotos von Messern, selbst gebauten Bomben und Waffen hochgeladen, die Ermittler fanden bei der Durchsuchung Entsprechendes.

Der Nutzer, der auch den McDonald's-Tweet verfasst hat und der "Diabolic Psychopath" ebenfalls schon länger aus dem Netz kennen will, veröffentlichte kurz nach dem Zugriff ein wichtigtuerisches YouTube-Video, in dem er den 15-Jährigen verteidigte. Dieser sei "ein Teil unserer Community, wir wussten über seine früheren Amok-Fantasien Bescheid", sagt der Videomacher darin. Sein Video ist mit dramatischer Musik unterlegt. "Diabolic Psychopath" habe von diesen Gedanken aber Abstand genommen, der Polizeieinsatz sei folglich überzogen gewesen.

Kein neues Phänomen

"Jugendliche spielen Amokläufe nach", schrieb die "Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung" ("FAS") auf ihrer jüngsten Titelseite und berichtete aufgeregt über Videoclips, in denen Nutzer mit "Counter-Strike" bekannte Amoktaten nachstellen. Das klingt nach einem Albtraum, erst recht im Kontext von Behauptungen wie "Sie trainieren das Töten mit Killerspielen".

Amoklauf-Nachstellung in "Counter-Strike"

Amoklauf-Nachstellung in "Counter-Strike"

Foto: Youtube

Was den arglosen Betrachter erschüttern dürfte, ist für Gamer aber wohl weniger schockierend. Die selbst gebauten Level sind von den Videomachern mit Figuren bestückt worden, die dann nacheinander erschossen werden. Weil "Counter-Strike" für Team-Duelle und nicht für solche Projekte gedacht ist, kommt es immer wieder zu Einblendungen wie "Player attacked a teammate".

Erwähnen sollte man auch, dass die von der "FAS" porträtierte Videonische kein Massenphänomen ist: Die teils Jahre oder Monate alten Videos haben mitunter nur Dutzende Klicks, viele dubiose Steam-Gruppen haben nur eine Handvoll Mitglieder. Auf Steam gibt es sogar zahlreiche Gruppen gegen Amokläufe.

Die Existenz der Amokclips belegt am Ende wohl vor allem eins: Amokläufe sind schreckliche Gewalttaten, in gewisser Weise aber auch ein popkulturelles Phänomen. Es werden darüber Filme gedreht und Bücher geschrieben, da wäre es schon erstaunlich, wenn die Thematik nicht auch in Spielen aufgegriffen würde.

Waffenbeschaffung als Ansatzpunkt für Ermittler

Dass Fans von Spielen wie "Counter-Strike" virtuell ihre oder bekannte Schulen nachbauen - was meistens übrigens wochenlange Arbeit ist und schon vor zehn Jahren für Aufregung sorgte -, hält Dietrich Urban nicht per se für problematisch. Er ist Verbandsvorsitzender des Bundeskriminalamts (BKA) im Bund Deutscher Kriminalbeamter. "Viele Jugendliche bilden für Spiele virtuell das nach, was sie kennen. Und das ist eben häufig ihre Schule. Das hat dann nichts mit Tatvorbereitung zu tun."

Einstiegspunkt in Ermittlungen sei, wenn ein Mensch sich auf die Suche nach einer Waffe macht, sagt Urban - sofern die Ermittler das denn mitbekommen. "Wer sich dagegen einen Namen wie 'Diabolic Psychopath' im Netz zulegt, tut nichts Verbotenes. An so einem Namen kann man keinen Verdacht festmachen, da wäre ja das halbe Internet betroffen", sagt Urban. Ermittlungen in Internetforen seien immer schwierig: Wie soll man bloß die Vielzahl an Informationen filtern?

Und, trotz aller verständlichen Sorge nach Amokläufen wie dem in München: Viele abstoßende Inhalte auf YouTube oder Steam sind nicht verboten - das gilt wohl auch für die meisten "Counter-Strike"-Amokvideos. Bei diesen sei der Einzelfall entscheidend, sagt Medienanwalt Thorsten Feldmann.

Auch wer Tim K. auf Steam verehrt, macht sich nicht unbedingt strafbar. "Die Meinungsfreiheit ermöglicht es grundsätzlich jedem zu sagen, dass er Charles Manson oder Tim K. gut fand", sagt Feldmann. "Problematisch wird es erst, wenn deren Taten gebilligt werden. Auch das ist allerdings nur dann strafbar, wenn die Billigung geeignet ist, den öffentlichen Frieden zu stören."

Was tun die Plattformbetreiber?

Bei solchen problematischen Inhalten oder gar bei konkreten Amokdrohungen sind auch die Betreiber der Plattformen in der Pflicht - wobei sie ihrer Verantwortung mal mehr, mal weniger gut nachkommen.

Bei YouTube heißt es auf Anfrage, eine automatische Vorkontrolle sei nicht machbar. "Pro Minute werden bei uns 400 Stunden Videomaterial hochgeladen. Es ist nach heutigem Stand unmöglich, das alles zu überprüfen."

Auch Steam hat Melde-Mechanismen. Jedoch kann man zum Beispiel nur Gruppen oder Nutzer melden, nicht aber einzelne Beiträge, die ein Nutzer verfasst hat. Im Vergleich zu anderen Plattformen sind das nur überaus rudimentäre Ansätze.

Einen Ansprechpartner für weitere Fragen gibt es bei der US-Firma nicht. Auch mehrere Anfragen für diesen Text beantwortete das Unternehmen ohne deutsche Vertretung nicht. Es scheint fast, als wolle sich Steam durch konsequente Nicht-Ansprechbarkeit der Diskussion über problematische Inhalte auf seiner Plattform entziehen.

"Freunde und Familie können keine Psychogramme anfertigen"

Amok-Experte Hoffmann aus Darmstadt würde sich wünschen, dass Firmen wie Steam ihre Meldesysteme weiterentwickeln. Nutzer sollten Inhalte schnell und einfach melden können, Hinweise müssten dann zügig zu einer kompetenten Stelle weitergeleitet werden, schwebt es Hoffmann vor. "Wichtig ist, dass man eine fachliche Bewertung bekommt, ob man die Behörden einschalten soll."

Denn auch als Online-Bekanntschaft sei man durchaus in der Lage zu beurteilen, ob sich etwa ein Mitspieler plötzlich auffällig verhalte, betont Hoffmann: "Die meisten haben als Peers dann doch ein gutes Gefühl dafür, wann Äußerungen schräg werden."

Doch egal wie gut die Meldemechanismen im Netz werden und wie wachsam das Umfeld ist: Mit einem gewissen Restrisiko müsse man leben, sagt Dietrich Urban vom BKA. Sogar für das unmittelbare soziale Umfeld sei es oft unmöglich, Anzeichen für einen Amoklauf zu erkennen, glaubt er. "Auch Freunde und Familie können keine Psychogramme anfertigen. Im Nachhinein lässt sich dann immer leicht Verdächtiges feststellen."


Zusammengefasst: Im Internet hat sich eine kleine Nutzergruppe zusammengefunden, die mit Tätern von Amokläufen sympathisiert. Einige haben sich sogar online mit dem Münchener David Sonboly ausgetauscht. So geschmacklos und verstörend solche Amok-Inhalte sind - sie sind legal. Ein Amok-Forscher wünscht sich bessere Meldesysteme, zum Beispiel für die Spieleplattform Steam.

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