
13 Jahre Netzpolitik unter Merkel Beharrungsvermögen ist kein Vermögen


Angela Merkel
Foto: Adam Berry/ Getty ImagesKaum verläuft mal eine Wahl nicht wie geplant, heißt es sofort: der "Anfang vom Ende der Ära Merkel" , oder schlimmer noch:"die Ära Merkel [ist] quasi beendet" . Die Rede war hier übrigens nicht von der Abstimmung über den Unionsfraktionsvorsitz vom Dienstag, sondern von den aus CDU-Sicht bitteren Landtagswahlen in Baden-Württemberg und Niedersachsen im Jahr 2011. Was sagt uns das? Abgesänge machen sich besser nach Abgängen.
Gegen Zwischenzeugnisse jedoch spricht nichts, selbst wenn sich die Große Koalition unter Merkel noch weiterschleppen sollte. Denn Merkels Schaffen kann aus digitaler Perspektive jetzt schon bewertet werden, nach nur 13 Jahren. Die Zusammenfassung auf dem Zeugniskopf muss lauten: Die digitale Ära Merkel war eine Zeit der Versäumnisse, der Verhinderung und des Versagens.
In dieser Härte und Eindeutigkeit mag das ungerecht erscheinen. Aber auch das meiste digital Positive, was mir zu den vier Regierungen Merkel einfällt, hat mit Nichtumsetzung zu tun. Die dann doch nicht eingeführten Netzsperren 2009 etwa. Oder die schließlich abgesagte ACTA-Gesetzgebung 2012 . Und nun ist auch noch Volker Kauder weg, der Anfang 2018 das Phänomen Digitalisierung entdeckt hatte und jetzt aber wirklich damit anfangen wollte. Das wird Merkels Digitalplänen einen Schlag versetzen!
Infrastruktur
Das zugegeben abgedroschenste (circa 250 Kolumnen allein von mir), aber auch leidigste Thema der Ära Merkel: die katastrophale digitale Infrastruktur Deutschlands. Was Glasfaserverkabelung bis in die Gebäude angeht,hat Deutschland 2017 bereits fast ein Zwölftel der Glasfaservernetzung von Bulgarien (28 Prozent) erreicht und mit sagenhaften 2,3 Prozent der Haushalte zu Angola aufgeschlossen. Wirklich wahr. Nichts gegen Angola, aber das Land hatte zuletzt rund ein Zehntel des Pro-Kopf-Bruttoinlandsprodukts von Deutschland und befand sich bis 2002 in einem 27 Jahre währenden Bürgerkrieg . In Angola haben nur 40 Prozent der Bevölkerung Zugang zu sauberem Trinkwasser, aber in Sachen Glasfaser liegt man gleichauf mit Deutschland.

Angela Merkel und Telekom-CEO Timotheus Höttges
Foto: JOHN MACDOUGALL/ AFPUnter Merkel versprachen Regierungsmitglieder 2008, 2009, 2010, 2011, 2012, 2013, 2014, 2015, 2016 und 2017 jeweils die "Lösung des Problems fehlender Breitbandanschlüsse", einen "Rechtsanspruch auf schnelles Internet" oder das "schnellste Netz der Welt". Das Versprechen, Angola zu überholen, wäre realistischer gewesen, aber selbst das hat man ja nicht geschafft. Und Besserung ist nicht in Sicht. 2018 forderte Merkel, Deutschland müsste Weltspitze in der nächsten Mobilfunktechnologie 5G werden. Faktisch hat die Netzagentur soeben bestätigt, dass die Versteigerung der 5G-Lizenzen - sofern sie denn wie vorgesehen stattfindet - ausdrücklich nicht an die Bedingung "lückenlose Versorgung" geknüpft werden soll .
Digitale Demokratie und soziale Medien
Zu Zeiten der Piraten 2011 sagte Merkel auf die Frage nach digitaler Demokratie : "Das Internet macht solche Formen der Bürgerbeteiligung möglich. Wir sollten sie nutzen. Ich bin sicher, in Zukunft wird das eine Selbstverständlichkeit sein." Ist es nicht geworden, mit dem Ende der Piraten hat Merkel das kaum mehr interessiert. Wenn man unter digitaler Demokratie weniger Abstimmungstools versteht, sondern Demokratie in Zeiten der digitalen Gesellschaft, offenbart sich das vielleicht größte Versäumnis der Ära Merkel: In einer hypervernetzten Zeit, wo alles Kommunikation und Kommunikation alles geworden ist, hat Merkel einfach weiter ihre Strategie des Nichtkommunizierens verfolgt. Von ihrem Videopodcast mal abgesehen.
Überwachung und Geheimdienste
Unter Merkel wurde die wenig- bis nichtsnutzige Vorratsdatenspeicherung eingeführt, trotz einer Menge Gerichtsurteile dagegen. Damit wurde die rote Linie überschritten, nämlich die Überwachung ohne Anlass beschlossen, ohne Verdacht, ohne rechtsstaatliche Notwendigkeit.
Mit Merkel hatte die von Edward Snowden aufgedeckte Spionagedramatik keine ernsthaften Konsequenzen. Stopp, das ist ungerecht, es gab doch welche: Zuvor illegale Praktiken wurden einfach gesetzlich legitimiert . Den gesamten Komplex der Überwachung und Geheimdienste hat Merkel völlig verquer behandelt. Abhören und Freunden "geht gar nicht" (Zitat Merkel), wurde aber praktiziert - in alle Richtungen. Als Ausgleich wurde Anis Amri dafür nicht besonders wirksam beobachtet. Merkels ewiger Satz "Das Internet ist für uns alle Neuland" stimmte 2013, er stimmt heute noch - aber man darf nicht vergessen, dass sie damit die NSA-Überwachung rechtfertigte.
Digitale Transformation
Der Wandel der Wirtschaft durch die Digitalisierung ist zu allererst Aufgabe der Unternehmen selbst. Aber die richtige Politik kann die notwendige Weiterentwicklung stark begünstigen. Der mangelnden Investitionswilligkeit der deutschen Wirtschaft zum Beispiel ist Merkel nur zaghaft begegnet. Investitionen haben viel mit Psychologie zu tun, doch die Kanzlerin als menschgewordenes Weiter-so hat den Druck zur Fortentwicklung noch einmal reduziert. Der Wandel der Arbeit und in der Folge des Sozialsystems liegt Merkels Aktivitäten nach zu urteilen auf ihrer Prioritätenliste etwa zwischen digitaler Demokratie und Hambacher Forst. Die bitteren Konsequenzen werden allerdings erst beim nächsten Abschwung sichtbar.
Stattdessen hat Merkel lieber Gesetzesvorhaben auf den Weg gebracht, die als antidigitaler Bestandsschutz verstanden werden mussten. An vorderster Stelle steht dabei das Leistungsschutzrecht für Presseverleger, das jetzt sogar EU-Recht wird. Ein lobbyfantasiertes Quatschgesetz, das Verlagen auf eigenen Wunsch vorgaukelt, der Wandel des Medienmarktes ließe sich gesetzlich aufhalten. Das ist das Rezept Merkel für die digitale Transformation: Erst lange abwarten und dann der am lautesten schreienden Konzernlobby folgen.
Zukunftsfähigkeit
Im Jahr 2018 hat Merkel eingerichtet: einen Digitalrat, ein Digitalkabinett, eine Digitalstaatsministerin im Bundeskanzleramt, den für die Digitalisierungskoordination zuständigen Staatsminister im Kanzleramt und eine Datenethikkommission der Bundesregierung. Das muss keine falsche Aufstellung sein, immerhin spiegelt sich darin die umfassende Wirkmacht der Digitalisierung wider. Und anders als 2014 - ich denke an Digitalkommissar Oettinger - sind diesmal auch Leute dabei, die ein tiefes Verständnis der Materie mitbringen. Aber bisher hat Merkel das Land mangelhaft bis ungenügend auf die Digitalisierung vorbereitet. Und dabei habe ich noch kein Wort über digitale Bildung verloren - denn die gibt es in Deutschland bisher kaum. Oder über die vielen misslungenen staatlichen Digitalprojekte von elektronischer Gesundheitskarte bis zum Digitalfunk der Polizei. Die durchaus vorhandenen Erfolge (in manchen Bereichen ist Deutschland eine Art digital hidden champion) sind eher trotz Merkels Politik entstanden als wegen. Die Start-up-Booms in Berlin, München, Hamburg und Köln zum Beispiel. Oder der Vorsprung der Wirtschaft in den Bereichen Produktion, Maschinenbau, Robotik.
Aber gerade in der Schlüsselindustrie des Landes war das größte deutsche Vermögen das Beharrungsvermögen - wider besseres Wissen. Die Bundesregierung und ihre Behörden haben den Automobilkonzernen ihre Software-Betrügereien durchgehen lassen, in einem Ausmaß, das als politische Mauschelei verstanden werden muss. Das passt ins Bild der verzögerten Zukunftsfähigkeit, denn damit wurde das Leben des zuvor erfolgreichen Dieselmotors künstlich verlängert, um nicht auf die nächste, voraussichtlich extrem digitale Stufe der Elektromobilität steigen zu müssen.
Ja, der Dieselmotor ist vielleicht das beste Symbol für Angela Merkel: Anfangs unterschätzt, irgendwie langweilig und gerade deshalb effizient - aber irgendwann nicht mehr zukunftsfähig, schmutziger als gedacht und nur noch mit dreisten Manövern zu halten.