Angst unter Amerikas Muslimen Droht nun die Hexenjagd?

Acht Millionen Muslime leben in den Vereinigten Staaten. Bisher waren sie keine homogene ethnische Gruppe. Seit gestern sind sie eine "fünfte Kolonne", die manche gern "ins Meer treiben" würden.

Der Begriff liegt nahe: Sippenhaft. Ein Teil der Bevölkerung der Vereinigten Staaten ist derzeit in Gefahr, ausgegrenzt zu werden - bis hin zur physischen Bedrohung. Die Nerven liegen blank in den muslimischen Gemeinden Nordamerikas.

"Keine Frage", warnt ein anonymer Poster im Forum des Islam-Portals Islamway, "dass es jetzt zu einer Hexenjagd kommt. Benutzt euren gesunden Menschenverstand und achtet darauf, mit wem ihr redet!"

Die New Yorker Studentin Afifa hat darauf 30 Minuten später eine Antwort: "Ich habe mit einer Schwester gesprochen, die auch den Niqab  (einen Gesichtsschleier, Red.) trägt. Sie sagte, jemand habe sie beschimpft, als sie aus ihrer Klasse kam." Die Studenten wurden direkt nach dem Terroranschlag evakuiert.

Stunden später kursierten die ersten Aufrufe, Frauen und Kinder im Haus zu halten, die Moscheen zu bewachen, um "Brandschatzungen und gewalttätige Übergriffe" zu verhindern.

Eine Gefahr, die tatsächlich bestehen könnte: Zwar bilden Amerikas Muslime keine homogene ethnische Gruppe, doch sind viele trotzdem anhand ihrer Kleidung zu erkennen. Erschwerend kommt hinzu, dass amerikanische Muslime tendenziell der afro-amerikanischen Ethnie angehören: Die Terroranschläge von New York und Washington sind so Wasser auf die Mühlen weißer Rassistengruppen.

Alle großen islamischen Verbände distanzierten sich umgehend von den Anschlägen: Die Islamic Assembly of North America IANA, der Council on American Islamic-Relations CAIR ebenso wie der Islamic Circle of North America ICNA.

Mit Pressemitteilungen und Aufrufen zu Blutspenden versuchten etwa CAIR und ICNA zu zeigen, auf welcher Seite sie stehen. Doch zeigen schon die Webseiten der Lobbyorganisationen, dass Probleme mit anti-islamischen Tendenzen schon vor den gestrigen Anschlägen alles andere als selten waren: CAIR unterhält eine Meldestelle für "Anti-Muslim Hate Crimes", ICNA ein "Muslim Alert Network".

Auf der noch nicht aktualisierten Seite dieses "MAN" heißt es: "Die Medien zeigen Muslime als gewalttätige Fanatiker. In Oklahoma explodiert eine Bombe, und sofort sind Muslime die Verdächtigen."

Das weiß man auch bei der IANA; "Wir verdammen die Ermordung unschuldiger Menschen, wie wir auch die fälschliche Beschuldigung anderer Menschen verurteilen. Aus diesem Grund appellieren wir an alle Entscheidungsträger und Medienvertreter, die Menschenrechte auf Sicherheit und Gerechtigkeit zu schützen. Es ist wichtig anzumerken, das terroristische Akte in der Vergangenheit viele Menschen gegen Muslime und Araber aufgebracht hat, die nun sofort jeder solchen Aktion verdächtigt werden. Muslime und Araber sind die Ersten, die verdächtigt werden."

Weiter heißt es in einem offiziellen Statement der IANA, dem man die akute Dringlichkeit in jeder Zeile anmerkt: "Nichts rechtfertigt es, die muslimische Weltbevölkerung von 1,3 Milliarden Menschen des Terrorismus zu bezichtigen, und nichts rechtfertigt es, die geschätzten acht Millionen amerikanischer Muslime durch ungerechtfertigte Stereotypen und Anschuldigungen der Angst vor Racheakten auszusetzen."

Doch die muslimischen Lobbyorganisationen haben einen schweren Stand gegen die Welle des Hasses, die derzeit über ihnen zusammenschlägt. Dabei hilft auch der stetige Verweis auf die prinzipielle Toleranz des Islam kaum, so lang das Fernsehen palästinensische Freudenfeiern zeigt, Extremisten wie Ussama Ibn Ladin für den Anschlag danken und - Stunden nach dem Anschlag - apologetische Nachrichten im Web kursieren, die den Anschlag zur logischen Konsequenz amerikanischer Politik erklären.

Sie finden ihr Gegenstück in der unbeschreiblichen Flut von Hassbriefen, Forumsbeiträgen und hasserfüllten IRC-Chats, die derzeit im Web kursieren.

Die auch von amerikanischen Muslimen nun selbst wahrgenommene Gefahr ist offenkundig, dass Muslime nun mehr noch als bisher zur "Fremdgruppe" im eigenen Land werden. "Muslime", schrieb ein anonymer Poster Dienstagnacht im offenen Islam-Forum von Yahoo, "sollten das Land verlassen, so lange das noch geht. Sie sind eine fünfte Kolonne, und obwohl nicht alle Terroristen sind, viele sind es. Ich bin nicht klug genug", fährt der Briefschreiber fort, "die Terroristen von den anderen zu unterscheiden. Die Terroristen unter ihnen sind Fische, während die amerikanischen Muslime das Meer sind, in dem sie schwimmen. Es wird Zeit, das Wasser abzulassen".

Nach dem Terroranschlag von Oklahoma, wissen amerikanische Muslime zu berichten, kam es spontanen Gewaltausbrüchen gegen die islamischen Glaubensgruppen in den USA. "Jetzt", schreibt die Islamic Assembly of North America, "fürchten wir, dass unsere muslimischen Gemeinden Übergriffe erleben könnten, die über das hinausgingen, was nach Oklahoma passierte. Möge Allah uns führen und helfen."

Am Mittwoch stand kein Vertreter einer islamischen Gruppe in Amerika für ein Interview zur Verfügung. Zahlreiche private Websites von Muslimen haben den Betrieb zeitweilig eingestellt. Im Fußball nennt man so etwas "die Bälle flach halten". Im wirklichen Leben nennt man es "sich unauffällig verhalten".

Oder deutlicher: Angst.

Frank Patalong

Mehr lesen über

Die Wiedergabe wurde unterbrochen.
Merkliste
Speichern Sie Ihre Lieblingsartikel in der persönlichen Merkliste, um sie später zu lesen und einfach wiederzufinden.
Jetzt anmelden
Sie haben noch kein SPIEGEL-Konto? Jetzt registrieren