Beichte im Internet Oh Herr, downloade unsere Schuld

Auf der Suche nach Vergebung und Erlösung offenbaren Wildfremde dem Internet ihre innersten Geheimnisse. Allerdings nicht in heimlichen Blogs oder verborgenen Foren - sondern auf höchst öffentlichen Beicht-Seiten. SPIEGEL ONLINE zeigt sie.

Diese Beicht-Seiten sammeln die Geständnisse und legen sie der Surfer-Meute zum Fraße vor - aber auch zur Erbauung. Denn wenn sich bei der Online-Beichte auch oft menschliche Abgründe auftun, so werden dort ergreifend menschliche Geschichten vom Scheitern und Streben, vom Lieben und Leben erzählt.

Wer in diese Welt unbedingter Schuld und Lust eintaucht, der merkt: Was ein Leben bewegt, das passt oft in einen einzigen Satz. Der reicht, um Illusionen aufzubauen und wieder einzureißen, um ganze Lebenslügen zu entblößen und Scheitern begreifbar zu machen. Oft verbirgt sich großes Leid in diesen Sätzen: Missbrauch, Tod, beflecktes Leben. Oft aber blitzt bei all der Tristesse auch große Komik auf, erschütternder Witz, mit Pointen, so schwer wie ein ganzes Leben. Dann strahlen die Beichten vor Hoffnung, Willen, gern auch ungebändigter Wut.

Dieses Hin und Her zwischen stillem Schmerz und herausgeschrieener Wut macht die Beicht-Seiten zu einer anstrengenden Lektüre. Beicht-Primus PostSecret  bringt die höchst erfolgreichen Geständnisse deswegen auch längst als Buch heraus. Mit dem kann man sich aufs Sofa zurückziehen und derart geschützt tief in die Gefühle anderer Menschen hinabsteigen. Nicht alle Beicht-Seiten gehen so vorsichtig mit dem um, was ihnen insgeheim in größter Öffentlichkeit anvertraut wird.

SPIEGEL ONLINE gibt einen Überblick über die Beichtstühle im Netz - von Outing-Stellen für böse Mütter bis zu Online-Richtern, die anonym über Schuld und Sühne bestimmen. Schnallen Sie jetzt bitte ihr Herz an:

Die Klassiker - berührende Postkarten und Kurzbeichten

Screenshot postsecret.blogspot.com

Screenshot postsecret.blogspot.com

Sag, was Du auf dem Herzen hast, egal was, bei uns ist es in sicheren Händen - und wird vielleicht zu einem Buch verwurstet. Das PostSecret-Projekt  begann als Blog, startete durch, bringt jetzt sonntags nur noch eine Zusammenstellung aus Postkarten-Neuzugängen mit Lebensbeichten, geheimen Sorgen und spitzbübischer Freude, schönen Collagen und hin und wieder erheblicher Schauderei. Ohne Archiv leider, aber das nächste Buch ist sicherlich schon in Planung.

Schön: PostSecret gibt's auch auf Deutsch . Wer Ballast abzuladen hat, schickt ihn per Postkarte an PostSecret Deutsch - Postfach 2553 - 72015 Tübingen.

Deutlich minimalistischer, dafür mit ebenso eiserner Hand redigiert: Onesentence.org . Erzähl Deine Geschichte kurz und bündig, lautet die Aufforderung. Die besten Geschichten wählt der Admin aus, über alle bis dahin unkontrollierten Einsendungen entscheiden die Surfer vorweg: Wo macht es "Klick", was kennt der Leser, was wollte er längst auch mal loswerden?

Etwas simpler geht es nur noch bei grouphug.us  zu. Wem's schlecht geht, der kommt hierher, erzählt, wo es gerade fehlt, und hofft auf eine innige virtuelle Umarmung von Mitleidenden.

Auch bei experienceproject.com  geht es darum, dunkle Geheimnisse loszuwerden - und sich den Rat anderer einzuholen. Eine kleine Stichprobe verrät: Die Geheimnisse sind interessanter als die Räte.

Beichten nach Themen - Flirt-Unglücke, Öko-Verbrechen, böse Mütter

http://www.nerve.com/datingconfessions/

http://www.nerve.com/datingconfessions/

Statt ziellos herumzujammern, lassen sich viele Sorgen auch wunderbar sortieren: Nach Beziehungsproblemen , einem schlechten Ökogewissen  oder Missetaten, die nur Mütter begehen können .

Einer der beliebtesten Dating-Einträge: "Warum musst Du nur so einen schlechten Mundgeruch haben?"

Buntes Beichten - zwischen neurotischen Ticks und purem Hass

Screenshot commonties.com

Screenshot commonties.com

Ist das nur eine Macke oder bin ich schon neurotisch? Seltsame Angewohnheiten, unerklärliche Zwänge, amüsante Ticks: Auf iamneurotic.com  klickt es sich ganz unbeschwert durch anderer Leute Nervenkostüm. Die Erfahrung: Ach, bin ja doch nicht so verrückt.

Auch Common Ties  versucht Gemeinsamkeiten aufzudecken, an Stellen, wo man gar nicht hinblicken will: Anhand von 20 Fragen suchen die Teilnehmer hübsch illustriert nach persönlichen Einsichten: Was war der schlimmste Verrat, was war dein seltsamstes sexuelles Erlebnis, wann hast Du dich einmal hilflos gefühlt?

Ganz auf den Hass konzentriert sich das Hatebook . Schön und simpel erklären Surfer da der Welt ihren Hass: Ich hasse, mich immer in Promis zu verknallen. Ich hasse Lügen. Ich hasse Kiffer. Ich hasse es, dass mein Mitbewohner so faul ist.

Beichten mit Folge - schuldig oder unschuldig?

Screenshot onthejury.com

Screenshot onthejury.com

Ganz handfest entscheidet onthejury.com  über Schuld und Sühne. Wer ein schlechtes Gewissen hat, legt der aus anderen Website-Besuchern zusammengesetzten Online-Jury das Problem vor, die entscheiden dann: Schuldig oder unschuldig.

Ein paar Kostproben aus der kollektiven Verantwortung:

  • "Manchmal, wenn meine zweijähriges Kind einen Anfall hat, lege ich es in die Krippe, lasse es zehn Minuten allein, damit ich wieder zu Atem komme." Das Urteil: Nicht schuldig; mit 90 zu 9 Prozent.

  • "In meinen Gedanken ziehe ich den ganzen Tag Frauen aus, obwohl ich eine Freundin habe. 'tschuldigung." Das Urteil: Nicht schuldig; mit 85 zu 15 Prozent.

  • "Mein Zorn ist leicht zu erregen: Ich sehe George Bush im Fernsehen und will den Fernseher zerstören. Ich drehe wegen schlechten Autofahrern durch." Das Urteil: Schuldig; mit 79 zu 20 Prozent.

  • "Ich habe auf der Arbeit eine illegale Substanz von einer anderen Person erworben." Das Urteil: Schuldig, mit 65 zu 43 Prozent.

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