Bezahl-Internet Als die "Times" aus dem Gratis-Netz verschwand

Die Web-Seite der britischen "Times" hat dramatisch an Besuchern verloren, seit sie Geld für ihre Online-Artikel verlangt. Doch für Häme ist es zu früh - der erste Einbruch der Nutzerzahlen ist wenig aussagekräftig. Erst langfristig wird sich zeigen, ob die Vision des Medienzaren Rupert Murdoch trägt.
"Times"-Web-Seite: Texte nur noch gegen Gebühr

"Times"-Web-Seite: Texte nur noch gegen Gebühr

Es musste wohl so kommen. Keine drei Wochen, nachdem die britische "Times" die Bezahlschranke vor ihrer Web-Seite heruntergelassen hat, wird in der Medienbranche bereits eifrig Bilanz gezogen. Die einen heben den Daumen, die anderen senken ihn.

Die Besucherzahlen seien nur um zwei Drittel zurückgegangen und das Experiment daher erfolgreich, kommentiert Robin Goad von der Web-Traffic-Firma Experian Hitwise.

Der "Guardian", direkter Konkurrent der "Times", gibt sich deutlich skeptischer: Die Besucherzahl sei zwischen 84 und 93 Prozent eingebrochen, rechnet Medienredakteur Josh Halliday mit recht abenteuerlicher Zahlenakrobatik vor.

Top oder Flop? Das Problem mit solchen Blitzbilanzen ist: Sie sind wenig aussagekräftig. Dass der Verkehr nach der Einführung der Lesegebühr am 2. Juli massiv zurückgehen würde, war zu erwarten. Umfragen unter Internetnutzern haben immer wieder ergeben, dass nur die wenigsten bereit sind, für Nachrichten zu zahlen. Alle bisherigen Experimente mit Bezahlschranken haben dies bestätigt.

"Sunday Times"-Chefredakteur John Witherow selbst hatte im Mai die Erwartungen gedämpft und gesagt, die Besucherzahlen könnten um mehr als 90 Prozent zurückgehen. Die Bedeutung der nun heiß diskutierten Zahlen ist daher fast nebensächlich.

Spiel auf volles Risiko

Entscheidend wird sein, ob die verbleibenden zehn Prozent an bezahlenden Nutzern den Verlust an Anzeigeneinnahmen ausgleichen können, der mit dem Ende des Massenportals einhergeht. Die Eigentümerin der "Times", die News Corporation des Medienzaren Rupert Murdoch, setzt darauf, dass die Abo-Einnahmen am Ende mehr bringen als die Bannerwerbung.

Es ist ein Spiel auf volles Risiko. Bislang funktioniert das Bezahlmodell nur bei Wirtschaftsblättern wie der "Financial Times" und dem "Wall Street Journal", die sehr spezielle Informationen an ein Fachpublikum liefern. Anbieter allgemeiner Nachrichten hingegen scheuen davor zurück - aus Angst, das Feld der Konkurrenz zu überlassen und sich selbst irrelevant zu machen. Darum wird der Pionierversuch der "Times" in der gesamten Branche mit Spannung beobachtet.

Murdoch und seine britische Statthalterin Rebekah Brooks haben stets betont, dass sie ein radikales Umdenken im Netz erreichen wollen. Die Gratiskultur soll ein Ende haben - dafür sind sie bereit, aus dem Wettrennen um die Klickzahlen auszusteigen. Die Branche sei "besessen von Traffic, der sich nicht rechnet", sagt Brooks. Seit März meldet das Unternehmen konsequenterweise keine Zugriffszahlen mehr an das Audit Bureau of Circulation, eine Organisation, die Medienreichweiten misst.

Vollauf beschäftigt mit der Analyse des Nutzerverhaltens

Ob Murdochs Rechnung aufgeht, wird sich jedoch erst im Laufe der Zeit herausstellen. Die Mitarbeiter der britischen Firmenzentrale im Londoner Stadtteil Wapping sind im Moment vollauf damit beschäftigt, das Nutzerverhalten im neuen Bezahlmodell zu analysieren. Kommen die User, die einmal die Tagesgebühr von einem Pfund gezahlt haben, später wieder? Zahlen Leute eher täglich oder wöchentlich? Muss man vielleicht einzelne Artikel doch wieder gratis anbieten - als Lockangebot?

Das Feintuning wird einige Monate in Anspruch nehmen. Erst dann lässt sich das Projekt für gelungen oder gescheitert erklären. Auch wird sich dann erst zeigen, ob die "Times" das richtige Bezahlmodell gewählt hat.

Die Murdoch-Leute setzen zunächst auf das Alles-oder-Nichts-Modell. Schon beim ersten Aufrufen eines Artikels wird der User zum Bezahlen aufgefordert. Ein Pfund pro Tag oder zwei Pfund pro Woche kostet der Zugang. Andere wie die "Financial Times" hingegen differenzieren zwischen Gelegenheits- und Stammlesern. Bis zu 17 Artikel innerhalb von 30 Tagen sind gratis, wer mehr lesen will, steht vor der Bezahlschranke.

Wie attraktiv ist die Marke wirklich?

Es ist nicht ausgeschlossen, dass die "Times" später noch zu einem solchen Misch-Modell wechselt. Zunächst jedoch hat man sich entschieden, es so einfach wie möglich zu halten. Die Komplettschranke soll auch Selbstbewusstsein ausdrücken - den Glauben, dass man tatsächlich Qualitätsjournalismus zu bieten hat, wie Murdoch es ausdrückt. Nun wird sich zeigen, wie attraktiv die Marke wirklich ist.

Wenn das Experiment gelingt, dürften sich etliche Nachahmer in der klammen Branche finden. Auch diejenigen, die sich nun die Hände reiben und die Leser der "Times" hämisch willkommen heißen, würden dann wohl darüber nachdenken. Wenn es allerdings schiefgeht - und nicht wenige halten das für wahrscheinlicher -, müsste die "Times" im schlimmsten Fall alle Inhalte wieder gratis zur Verfügung stellen. Spott wäre ihr gewiss.

News Corp. nimmt noch keine Stellung zu den ersten Erfahrungen mit der Bezahlschranke. Laut dem früheren "Times"-Redakteur Dan Sabbagh, der seit Januar das Online-Medienportal Beehive City betreibt, hat die Webseite in der ersten Woche 15.000 zahlende Leser gewinnen können. Laut Sabbagh wird dies in Wapping als enttäuschend eingeschätzt. Aber die Zahl dürfte stetig ansteigen, tröstet er seine Ex-Kollegen. Außerdem kämen zu den 15.000 noch 12.500 Käufer der iPad-App - macht insgesamt also 27.500 zahlende Online-Kunden.

Rund 200.000 zahlende Abonnenten wären Sabbaghs Schätzung zufolge nötig, um die Anzeigenverluste auszugleichen, die durch den Rückgang der Besucherzahlen entstehen.

Der schleppende Start zeigt, dass Murdoch einen langen Atem brauchen wird. Doch diesen scheint er zu haben. Seit einiger Zeit versucht er auch, eine Online-Allianz namhafter Verleger zu schmieden. Sein Kalkül: Wenn genug große Namen beim Paid Content im Netz mitmachen, könnte das Projekt funktionieren.

Im kommenden Jahr bekommen seine Blätter Gesellschaft. Dann wird auch die "New York Times" den Sprung wagen und Geld für ihre Webseite fordern.

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