Blogger-Kongress Schreiben - bis zu zwölf Stunden am Tag
Über Blogger kursieren jede Menge Gerüchte. Zum Beispiel dass nur sie selbst Weblogs lesen, aber sonst kein Mensch auf der Welt. Ein anderer Mythos besagt, dass Blogger eine Gegenöffentlichkeit zum traditionellen Journalismus bilden, von dessen Fehlern und Auslassungen sie gut leben. Damit nicht genug: Es gibt auch noch den Mythos der Irrelevanz. Angesichts von Strick-Blogs, jeder Menge Katzen-Content und Weblogs über Teenie-Bands wie Tokio Hotel hält sich hartnäckig der Vorwurf des Banalen.
Auf der noch bis Freitag laufenden "re:publica"-Konferenz in Berlin kann man sich davon überzeugen, dass alle Klischees stimmen. Und auch wieder nicht. Wenn die "Akteure miteinander reden, dann gewiss nicht mit einer einzigen Stimme" - so beschreibt Johnny Haeusler, Gründer des populären Blogs Spreeblick , den von ihm mitorganisierten Kongress. 700 Teilnehmer haben sich für die Konferenz angemeldet, "80 Prozent davon publizieren selbst im Netz als Amateure". Von österreichischen Touristik-Bloggern über den viel gelesenen BILD-Blog von Stefan Niggemeier bis zum Redakteur eines Militär-Weblogs bei einem Nachrichtenmagazin waren unterschiedlichste Blogger vertreten.
Die Blogosphäre ist weiblich
Manche Blogger-Mythen sind, so wahr sie auch erscheinen, empirisch nicht aufrechtzuerhalten. Längst hat die Wissenschaft erste Studien über den Blogger als solchen angestellt, mit erstaunlichen Ergebnissen. Dass man sich unter einem typischen Vertreter dieser Zunft einen männlichen Nerd vorzustellen hat, sei schon deshalb falsch, "weil die Blogosphäre weiblich ist", sagte Kommunikationswissenschaftler Jan Schmidt. Laut einer an der Uni Bamberg durchgeführten Inhaltsanalyse werden 66 Prozent aller deutschen Weblogs von Frauen verfasst. Warum in den Blog-Charts zu 79 Prozent Männer den Ton angeben, bleibt ungeklärt.
Auch der Eindruck trügt, dass sich alle Blogger als kleine Revoluzzer verstehen, die im Dienst der Gegenöffentlichkeit den etablierten Massenmedien an den Karren fahren. Zum einen unterhalten die Massenmedien nicht ganz erfolglos selbst Weblogs und sei es nur wie bei der "tageszeitung", um Platz für ihre Viel- und Langschreiber zu finden. Zum anderen suchen Blogger laut Schmidt eine "persönliche Öffentlichkeit".
Anstatt Weltgeschehnisse zurechtrücken zu wollen, thematisieren demnach die meisten Blogs Privates, Privates und noch mal Privates. Da werden subjektive Erlebnisse geschildert, persönliche Fotos gezeigt, Lieblings-Websites verlinkt. Erst auf Platz 9 kommen politische Themen.
Viele Blogger finden wenige Leser
Von daher rührt das Vorurteil der Irrelevanz. Ein Mythos. Denn dahinter steckt bloß eine "Verschiebung der Maßstäbe", sagt Kommunikationswissenschaftler Schmidt: Früher habe Öffentlichkeit immer auch gesellschaftliche Relevanz bedeutet. Heute sei sie "persönlichen Relevanzkriterien" gewichen.
Kurz, im Grunde ist es ganz einfach: Hat man sich erst mal von der Vorstellung eines "richtigen Bloggens" befreit, kann man munter drauflos fabulieren. Und hat man akzeptiert, dass Weblogs ein "Long tail"-Phänomen sind, von dem nur wenige leben können, braucht einen die Vorstellung nicht mehr zu schrecken, bloß von ein paar anderen Bloggern wahrgenommen zu werden.
Dafür ist die Chance, unter diesen Lesern echte Freunde zu finden, besonders groß. Eine weitere Podiumsrunde auf dem "re:publica"-Kongress befasste sich mit dem "Leben im Netz". Es sollte nicht erstaunen, dass Blogger keine klare Trennung ziehen zwischen ihrer On- und Offline-Existenz. Zwölf Stunden im Netz: völlig normal.
Mit den Worten von Matthias Oborski, Blogwart beim Spiele-Blog "D-Frag", ist das Web "nicht wie Warmwasser, sondern wie Sauerstoff" also überlebenswichtig. Der Aufenthalt in der Realität erscheint ihm dagegen "wie Abenteuerurlaub". Vor die (hypothetische) Wahl gestellt, 500.000 Euro einzustreichen und dafür auf das Internet zu verzichten, wollte jeder der Anwesenden sich fürs Web entscheiden.
Verhaltenskodex: abgelehnt
In Blogs ist der Umgangston bisweilen rüde - inzwischen diskutieren Blogger, ob verpflichtende Verhaltensregeln notwendig sind. Im Gegensatz zu Tim OReilly, der einen Moralkodex vorgeschlagen hat, sprechen sich die Berliner Blogger gegen ein normatives Regelwerk aus.
"Ein Regelwerk schränkt die Kreativität ein", sagt Don Dahlmann, der ein Info-Blog zum Thema Abmahnung betreibt. Informationswissenschaftler Rainer Kuhlen geht noch einen Schritt weiter: Für ihn unterscheidet sich Ethik je nach Kontext, weshalb sie in elektronischen Räumen anders aussehen darf als in der Offline-Welt. "Ich würde mich dagegen wehren, die Regeln der normalen Welt auf das Internet zu übertragen."
Die Ethik des Bloggers sei die Informationskompetenz - wozu auch das gezielte Lügen und Desinformieren von Trollen gehöre.