Bandenkriege in Chicago Online drohen, offline schießen

Provokationen im Internet enden in Chicago oft in realer Gewalt, wie bei der ermordeten Gakirah Barnes (hier links im YouTube-Video der Fly Boy Gang)
Foto: youtube/ DADAcreativeLängst sind Chicagos Gangs nicht mehr nur auf der Straße aktiv, sondern auch online. Auf Youtube drohen sie sich gegenseitig, auf Instagram posieren sie mit ihren Waffen, in Livestreams provozieren sie ihre Widersacher. Während die Banden Chicagos früher mit ihren schweren Autos durch die breiten Straßen brausten, nutzen sie heute zunehmend ihre Smartphones, um sich mit ihren Gegnern anzulegen.
Das digitale Kräftemessen kann tödliche Konsequenzen haben: Die 17-jährige Gakirah Barnes von der Tooka Gang, einer afroamerikanischen Gang in Chicagos South Side, lieferte sich vor einigen Jahren auf Twitter öffentlich Gefechte, bezeichnete sich selbst als Killer. Nach einem Onlinedisput wurde sie auf der Straße erschossen. Sie wäre unauffällig in die Statistiken toter Gangmitglieder gerutscht, wäre ihr Onlineverhalten nicht aufgefallen - ihr Fall hat gezeigt, wohin Cyber-Banging führen kann.
Dass Cyber-Banging, eine Wortmischung aus Cyber- und dem sogenannten Gang-Banging, den Auseinandersetzungen zwischen Gangs auf der Straße, eine Gefahr birgt, sagt auch Desmond Patton, Professor an der New Yorker Columbia-Universität. "Cyber Banging führt zu einer Ausweitung von Aggression und Drohungen, die zu realer Gewalt führen können. Es muss nicht der eigentliche Grund für Gewalt sein, aber viele Gespräche aus den sozialen Medien schaukeln sich auf", sagt er. Weil junge Leute ihre Reputation wahren wollten, fühlten sie sich genötigt, negativen Kommentaren etwas entgegenzusetzen. Das führe offline durchaus zu Gewalt, die eskalieren könne, wenn die Betroffenen Waffen hätten.
Viele haben ihre Feinde als Freunde auf Facebook
Chicagos Mordrate ist hoch, mehr als 550 Personen sind im Jahr 2018 ermordet worden. Die Stadt bekommt ihr Gewaltproblem nicht unter Kontrolle, obwohl sie kleiner als New York oder Los Angeles ist. Für 2019 zählt die Statistik bisher 53 Tote bis Mitte März .
Die 26-jährige Luz Cortez im South-Side-Viertel Chicago Lawn kennt das Gang-Leben von innen. Wer dort aufwächst, für den wird die Gang zu Freunden und Familie zugleich. Man lernt die Regeln von den Älteren. "Social Media macht es gefährlicher. Manche gehen nicht einmal mehr nach draußen, um sich anzulegen. Online sind sie eine andere Person und bezeichnen sich selbst als Gangster, obwohl sie es eigentlich nicht sind", so Cortez.
Cortez' Cousins erzählen, dass Gangmitglieder in gegnerische Viertel gehen und sich mit dem Handy filmen - wissend, dass der Standort angezeigt wird. "Mit den Handys kann man sehen, wer zu welcher Zeit da draußen ist, damit wirst du zum leichten Ziel", sagt Luz Cortez. "Aber es provoziert die gegnerische Gang und bringt dir Street-Credit. Viele haben ihre Feinde als Freunde auf Facebook, weil sie sehen wollen, was sie tun, welche Waffen sie haben", so Cortez.
"Reputation heißt zu überleben"
Der Forscher Desmond Patton hat zusammen mit Kollegen das Safe Lab gegründet, in dem sie Ursachen und Prozesse von Gewalt analysieren. Das, was früher offline geschehen ist, wird in sozialen Medien potenziert. "Reputation heißt zu überleben, gerade in Gegenden, wo es Gewalt gibt. Wenn ich eine Reputation habe, die vorgibt, dass ich tough bin, kann ich mich damit schützen", sagt Patton. So wie im Fall von Gakirah Barnes, die sich im Netz brutal mit Waffen zeigte, in Rapvideos auftrat.
Oft sind es Rapper, die online die Kämpfe anheizen, auch weil sie über die Szene rappen und sich dabei einer Gang loyal erklären und andere angreifen. Der Slang, die Sprache und Musik sind provokant, doch was das Forscherteam um Patton herausgefunden hat, zeigt ein anderes Bild: Teenager gehen nicht zum Trollen online, sondern zum Trauern.
Erst das Umfeld in den sozialen Netzwerken führt dazu, dass sich Trauer in Aggression verwandelt. Patton und sein Team haben jahrelang Daten von Twitter ausgewertet, von Jugendlichen, die mit Gangs zu tun haben, hauptsächlich aus Chicago. In ihrem Datensatz aus etwa zwei Millionen Tweets und 9000 Nutzern sind sie der Frage nach Verlust nachgegangen und haben dabei Muster gefunden: Auf Posts, die sich eigentlich um Trauer und Trauma drehten, folgten drohende oder aggressive Beiträge.
Aus Trauer wird Aggression
Dabei gehen die jungen Menschen nicht primär online, um aggressiv zu sein. Im Gegenteil: "Sie sprechen über ihren Alltag, nutzen die Plattformen prosozial", sagt Patton. "Sie sind verwundbar, suchen Zuwendung und Hilfe, doch wenn andere das stören und ihre Trauer kommentieren, dann werden sie bedrohlich und aggressiv. Jugendliche fühlen dann, dass sie sich, ihre Freunde und Familie beschützen müssen."
Bei der ermordeten Jugendlichen Barnes waren der Tod ihres 13-jährigen Bruders und später der Tod einer Freundin Auslöser für aktives Twittern. Ihre Tweets wandelten sich von Trauer zu Drohungen .
Soziale Medien seien eine Herausforderung, und gerade junge Menschen kommen mit dem Rhythmus nicht klar, meint Patton. "Jugendliche entwickeln sich geistig noch, sie sagen schneller Dinge, ohne nachzudenken. Das ist der technologischen Entwicklung entgegengesetzt", so der Forscher. "Da geht alles schnell: schnelle Action, schnelles Denken, schnelle Pausen, alles Realtime - das verträgt sich nicht gut mit einem jugendlichen Gehirn."
Das Vertrauen in die Polizei ist gering
Während viele Nichtregierungsorganisationen in Chicago weniger im Netz, sondern mehr auf der Straße arbeiten, sieht Patton die Zukunft in einer Kombination aus Online- und Offlineprävention. Mit simulierten Trainingssituationen, so hofft er, können Jugendliche und Sozialarbeiter darauf vorbereitet sein, was potenziell passieren kann und welche Lösungen es gibt. Einerseits in den Nachbarschaftsorganisationen, die Daten von Pattons Forscherteam erhalten und mögliche Aggressionen über die Reaktionen in sozialen Medien erkennen, bevor sie ausbrechen. Andererseits, indem es virtuelle Trainingsräume gibt, in denen Verhalten, Aktionen und deren Konsequenzen in Onlinewelten geübt werden können.
Das Sammeln und Verarbeiten von Daten aus Netzwerken und die Verknüpfung mit Persönlichkeitsprofilen ist jedoch ein heikles Thema. Chicago setzt schon lange auf Predictive Policing, also Sicherheitsstrategien der Polizei, bei denen mithilfe von Onlinedaten und Profiling potenzielle Kriminelle identifiziert und beobachtet werden. Patton möchte seine Arbeit jedoch nicht der Polizei zur Verfügung stellen.
Das Vertrauen in das Chicago Police Department ist gering. Oftmals werden gerade schwarze Jugendliche verdächtigt und analysiert. Sogenanntes Racial Profiling und falsche Verurteilung sind ein Risiko. Die Polizei bringt jedes Jahr das "Gang Book" heraus, quasi ein gedrucktes Facebook von vermeintlichen Gangmitgliedern. In der letzten Version von 2018 wurden an die 100.000 vermeintliche Gangmitglieder nicht nur mit Fotos, persönlichen Daten, Gang-Graffitis gelistet, erstmals befinden sich auch Postings aus sozialen Medien wie Instagram, YouTube und Twitter in den Profilen des 400 Seiten dicken Buches abgedruckt.