Confluence Die Breiten- und Längengrad-Jäger

Was bringt Menschen dazu, mit dem GPS-Empfänger bewaffnet die Schnittpunkte von Breiten- und Längengrade zu suchen? Sie fotografisch zu dokumentieren und auf Webseiten zu "sammeln"? Confluence-Fans sammeln Geschichten dort, wo es anscheinend nichts zu finden gibt.
Von Mario Gongolsky

Etwas Bewegung in frischer Luft, ein kurzer Tanz am Ziel und Fotos in alle Himmelsrichtungen: Bewaffnet mit Gummistiefeln, Kartenmaterial und einem GPS-Empfänger zur exakten, satellitengenauen Positionsbestimmung brechen Menschen zu Expeditionen an die Schnittpunkte geografischer Längen- und Breitengrade auf. Schon 16 Prozent aller Schnittpunkte des Erdballs sind durch die Freizeitentdecker dokumentiert worden und es werden täglich mehr.

Dabei fing alles ganz harmlos an. 1996 bekam der Amerikaner Alexander Jarrett einen tragbaren GPS-Empfänger geschenkt. Das Gerät faszinierte ihn zwar, aber was sollte er bloß damit anfangen? In New Hampshire (USA) fand er erstmals glatte Positionsangabe auf dem Display: 43 Grad Nord, 72 Grad West (43°N 00'00 / 72°W 00'00). "Aha", dachte er und schaute in alle Himmelsrichtungen, "hier schneiden sich also ein Längen- und ein Breitengrad."

Es sollte eine schwerwiegende Feststellung werden. Ihr folgte die Frage: Wie mag es wohl an den anderen Schnittpunkten von Längen- und Breitengrad aussehen?

So erkundete er weitere Schnittpunkte und stellte Fotos dieser Orte ins Internet. Die Idee fand viele Freunde und führte zur Gründung des "Degree Confluence Projects". Auf der Webseite des Projekts entwickelt sich eine neue Sicht der Welt, festgehalten auf weit mehr als 25.000 Fotografien.

Das neue Bild der Erde ist reichlich profan, denn wer glaubt, an solchen Schnittpunkten müsste es etwas Außergewöhnliches zu entdecken geben, der irrt. Ist es Neugierde, Entdeckerlust oder eine neue Sammelleidenschaft, die auch in Deutschland Menschen veranlasst, mit Gummistiefeln knietief im Morast zu versinken?

Renate Weiß und ihr Freund Jan Liska aus Darmstadt sollten eine Antwort auf diese Fragen haben. Sie waren viel unterwegs, um alle 32 deutschen Schnittpunkte zu besuchen. Im Wettlauf um die begehrten Erstbesuche hielten sie weder Wind noch Wetter auf. "Ich reise gerne, bin gerne in der Natur und dazu noch technikbegeistert", erklärt Jan Liska, der im normalen Leben Vertriebsleiter eines EDV-Systemhauses ist, seine Leidenschaft Schnittpunkte aufzuspüren.

Ortungstanz im Zielgebiet

Nicht immer ist die Ortsbestimmung per GPS ohne Schwierigkeiten möglich. Im tiefen schneebedeckten Fichtenwald zum Beispiel kann der Navigationscomputer kaum ausreichend viele Satelliten empfangen. In solchen Fällen dauert der so genannte "Confluence-Dance" besonders lange. Die leicht nach vorn gebeugte Haltung der Schnittpunkt-Entdecker, die stetig einige Schritte vor- und zurückpendeln, um den präzisen Schnittpunkt zu ermitteln, ist für unvorbereitete Passanten ein merkwürdiges Schauspiel. Doch da die meisten Schnittpunkte buchstäblich in der Pampas zu finden sind, dürfte ein Applaus für die unkonventionelle Darbietung eher eine Ausnahme sein.

In Oestrich-Winkel liegt ein deutscher Schnittpunkt ausnahmsweise inmitten einer Siedlungsfläche. Doch glücklicherweise liegt die genaue Peilung des Schnittpunktes nicht etwa im Inneren eines Gebäudes, in dem ja kein GPS-Empfang möglich wäre, sondern draußen im Garten der Familie Suhen. Jan Liska erinnert sich gut an die Verwirrung der Ehegattin: "Schatz, was machen die da? Haben wir eine Ölquelle im Garten?"

In Baden-Württemberg machte sich die Amateurfunk-AG der Realschule in Kleinglattbach mit dem GPS-Empfänger auf, um den Schnittpunkt 49° Nord, 9° Ost genau auszumessen. Die Schüler entwarfen sogar eine beleuchtete Hinweistafel, die vom Bürgermeister der Gemeinde Sachsenheim feierlich vor der Lokal-Presse der Öffentlichkeit übergeben wurde. Dieser Schnittpunkt liegt gut erreichbar am Rande des Wanderweges 9 des Schwäbischen Albvereins.

Große Welt für kleine Abenteuer

Leider ist Deutschland zu klein für Konfluenz-Jäger, doch seine Bewohner gelten ja als besonders reiselustig und so wurde der erste von insgesamt 106 Schnittpunkten des in Zentral-Nordafrika gelegenen Tschad von der deutschen Familie Jungstand erobert.

"Meine Schwester Grit ist Ethnologin und arbeitete ein Jahr dort an einem Forschungsprojekt", erklärt Peer Jungstand das unkonventionelle Reiseziel. Bei seiner Internet-Recherche über den Tschad stieß er auf die Confluence-Seite und der Schnittpunkt lag quasi auf dem Weg. Ihr Fahrer Youssef wunderte sich allerdings schon, als die ganze Familie ausstieg, um den Weisungen des kleinen gelben Ortungskästchens in den Busch zu folgen.

Das Geheimnis: Eigentlich sind sie Geschichten-Jäger

Das Hobby lebt von kleinen Abenteuern am Wegesrand: Um an den Schnittpunkt 35° Nord, 136° Ost zu gelangen, kletterte der Schnittpunkt-Jäger Paul Stratton ebenso ungelenk wie unbefugt über den Zaun des Golfplatzes im japanischen Kinki. In der Nähe des 18. Lochs hätte er den Schnittpunkt peilen können, aber die Platzwarte waren zu schnell zur Stelle um die Sache perfekt zu machen und begleiteten ihn mit japanischer Freundlichkeit, aber auch sehr bestimmt, zu einem kletterfreien Ausgang.

Der amerikanische Journalist und Englischlehrer Gregory Michaels besuchte in Taiwan die Koordinate 24 West, 121 Ost und stand dafür zusammen mit Riesenspinnen im Bambus-Urwald - nur einige hundert Meter vom Epizentrum des verheerenden Erdbebens von 1999 entfernt, über das er seinerzeit berichtete.

Henrik Sunden aus Schweden brauchte hingegen ein Boot, um im Nordatlantik vor der Küste der Faröer-Insel Koltur den Schnittpunkt 62° Nord, 7° West ausfindig zu machen. Das ist gefährlich, weil dort in der Enge von Hestfjördur immer eine starke Strömung herrscht. Schwierig war es ebenfalls, weil das kleine Boot des Ehepaars Patursson, die in das Unternehmen einwilligten, sich kaum stabil am Schnittpunkt halten konnte. Zusätzlichen Nervenkitzel brachte der Umstand, dass der genaue Punkt 62 Nord, 7 West kaum 30 Meter von der felsenbewährten Küstenlinie entfernt liegt.

Der Wenzler-Familienclan aus Tuttlingen hält mit seiner Expedition zu 48° Nord, 9° Ost sogar einen Rekord: ein Treffen der Generationen mit 37 Personen auf dem Schnittpunkt. Mit mehr Menschen kann derzeit keine andere Expedition aufwarten. Für Renate Weiß und Jan Liska sollen dieses Jahr die Hochzeitsglocken läuten. Die Flitterwochen wollen die beiden in Lappland verbringen: Kuscheln und Punkte sammeln.

Noch warten über 13.000 Schnittpunkte auf der Landmasse des Planeten Erde auf einen Besucher, bis das Schnittmuster der Welt komplett erkundet und fotografiert worden ist.

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