Sascha Lobo

Coronavirus und soziale Medien TikTok-Tänze retten plötzlich Menschenleben

Sascha Lobo
Eine Kolumne von Sascha Lobo
Huch, hier gibt es ja doch Empathie, Solidarität und Menschlichkeit? In der Coronakrise finden soziale Medien ihre Rolle als informationelles Immunsystem der Welt.
Was derzeit durch die sozialen Netzwerke geht, kann bei der Bewältigung der Coronakrise helfen - und wenn es nur Witze sind

Was derzeit durch die sozialen Netzwerke geht, kann bei der Bewältigung der Coronakrise helfen - und wenn es nur Witze sind

Foto:

Weng Xinyang/ imago images/Xinhua

Die globale Viruskrise dramatisiert sich. Die reale Gefahr ist in den letzten Wochen präziser einschätzbar geworden. Wer Berichte aus Italien liest, die bestürzenden Zahlen der Toten sieht oder die Warnungen seriöser Wissenschaftlerinnen, bekommt einen Eindruck. Und wahrscheinlich Angst. Corona ist ein Spiegel, in den die Welt hineinschaut und in dem sie ihre eigene Fratze sieht. Aber nicht nur. Ich sehe auch Hoffnung, wo man sie vielleicht nicht vermutet hätte - in sozialen Medien. Meine These: Soziale Medien finden langsam eine Rolle als informationelles Immunsystem der Welt.

Ich glaube, eine Verbesserung im Vergleich zur Situation vor einigen Wochen erkennen zu können. Damit möchte ich weder sämtliche Entwicklungen schönreden, noch die ebenfalls erkennbaren katastrophalen bis monströsen Geschehnisse leugnen. Noch immer heizen viel verbreitete Verschwörungstheorien Rassisten an, noch immer taumeln gar nicht so kleine Gruppen zwischen gefährlicher Panik und ebenso gefährlicher Verharmlosung. Aber es lassen sich auch zunehmend häufig positive Reflexe und produktive Reaktionen beobachten.

Bewältigung

Am deutlichsten sind vielleicht die allgegenwärtigen, immer gleichen fünf Standardscherze über Corona. Humor und auch die in sozialen Medien häufigere, humorähnliche Onkeligkeit haben eine gut erkennbare Entlastungsfunktion. Die eigene Angst wird selbstberuhigend gekontert mit einem geteilten "Postillon"-Artikel. Und es funktioniert. Humor ist da wie Marketing von Apple, es wirkt, obwohl man weiß, dass es ein Trick ist.

In sozialen Medien werden zudem die sehr verschiedenen Sorgen sichtbar. Okay, dass eine bestimmte Klientel sich derzeit primär darum sorgt, wie ihr Aktiendepot gewinnbringend umstrukturiert werden kann, hätte man sich eh gedacht. Aber mit Corona wird die oft gescholtete Offenheit vieler Menschen in sozialen Medien zum Segen, also die Bereitschaft, selbst Privatestes preiszugeben: Auch mit vermeintlich merkwürdigen oder abseitigen Sorgen ist man nicht allein. Und nicht allein zu sein und sich nicht allein zu fühlen, ist eines der besten Mittel zur Bewältigung von allem.

Diskussion

Es ist deshalb auch ein großes Missverständnis, dass Diskussionen immer rein faktenorientiert und ergebnisorientiert sein müssten. Sie haben eine manchmal sogar wichtigere, soziale Funktion. Es stimmt, dass die Corona-Pandemie manche Menschen dazu bringt, in sozialen Medien Horrendes zu äußern oder als Antwort andere in monströser Weise zu attackieren. Aber selbst darin kann eine Erkenntnis liegen. Mit Grenzüberschreitungen samt grenzüberschreitender Gegenreaktionen wird öffentlich ausgehandelt, welche Positionen und Reaktionen in welchen Teilen der Gesellschaft akzeptabel erscheinen und welche nicht.

Und zum Glück twittert dann Dieter Nuhr, der für den linkeren Teil der bürgerlichen Öffentlichkeit eine Blitzableiterfunktion darstellt: Ein andeutender Halbsatz  reicht aus, damit die Wut über praktisch jedes Fehlhalten konservativer, weißer, alter Männer auf ihn projiziert wird. Viele, selbst kreuzvernünftige Menschen halten es offenbar nicht aus, wenn an irgendetwas keine konkrete Person die Schuld trägt. Da ich davon ausgehe, dass Nuhr diesen Mechanismus absichtlich bedient, möchte ich ihm für dieses Sündenbock-Angebot fast dankbar sein (obwohl ich einige seiner Positionen als knalldackelig betrachte).

Information

Persönlich habe mich noch niemals so umfassend und gut informiert gefühlt im Angesicht einer globalen Krise. Oft ist (auch von mir) eine unselige Wirkgemeinschaft aus redaktionellen und sozialen Medien kritisiert worden, zwischen Sensationalisierung und hassschürendem Boulevard. Selbstredend existiert das weiterhin, aber ich meine, Anzeichen für einen Lerneffekt zu erkennen. Etwa, dass die enge Verbindung zwischen Corona und antiasiatischem Rassismus überhaupt früh und einigermaßen prominent thematisiert wurde.

Was die öffentliche Versorgung mit pandemie-relevanten Fakten angeht, greifen klassische Medien und sozialmediale Verbreitung oft sogar mustergültig ineinander. Wer den Wert einer funktionierenden Medienlandschaft bisher nicht erkennen wollte, muss spätestens angesichts von Corona eingestehen: Es ist unglaublich erleichternd, dass jedes neue Faktum, jede neue politische und wissenschaftliche Äußerung fast in Echtzeit eingeordnet und erklärt wird. Wer möchte, findet im Netz bereits mit mittlerer Medienkompetenz in Minuten verlässliche und aktuelle Informationen, ich wage zu behaupten: Die redaktionelle und sozialmediale, digitale Informationslandschaft rettet Leben. Genau jetzt.

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Über soziale Medien findet vor allem eine Anreicherung und Einordnung statt: Wie ist eigentlich die Situation in anderen Ländern, auf anderen Kontinenten  im Vergleich? Was sind die nützlichsten Informationsquellen? Wer kommuniziert offen, verständlich, konsistent, nahbar und emotional angemessen?

Ich möchte das konkretisieren, und zwar anhand einer Person, denn soziale Medien sind personengetrieben. Für mich hat sich Lars Fischer , twitternder Wissenschaftsjournalist und Redakteur von Spektrum.de, zur deutschsprachigen Referenz entwickelt. Nicht nur wegen seiner fantastischen Artikel. Sondern vor allem, weil er soziale Medien gleichzeitig als Experte und als Mensch benutzt. Daraus entsteht eine Form von Vertrauen, die ich als Antidot gegen den Vertrauensverlust in traditionelle Medien betrachten möchte. Fischer verteilt Informationen aus aller Welt, thematisiert und reflektiert unterhaltsam die eigenen Empfindungen und Überlegungen  – und spricht klare Handlungsanleitungen aus.

Handlungsanleitung

Hier entfalten die Unterhaltungsmechanismen der sozialen Medien eine unerwartete Wirkung. Der ganze Spott, die sogenannten Meme (meist Wort-Bild-Witze), die vielen kurzen Videoclips – wir können sie rückwirkend als eine Art Training für den Ernstfall betrachten.

Ich glaube, dass unterhaltsame Videos mehr Jugendliche zu seuchenangemessenem Verhalten gebracht haben als alle Ermahnungen sämtlicher Gesundheitsminister zusammen. Auf TikTok, dem Netzwerk der Stunde für in diesem Jahrtausend Geborene, entsteht ein Tanzwettbewerb , bei dem Zehntausende zu einem vietnamesischen Poplied stilisierte Händewasch-Bewegungen machen.

Auch Erwachsene lassen sich halb spielerisch, halb ernsthaft auf die in sozialen Medien gelernten, sinnvollen Verhaltensweisen ein. Keine berufliche Zusammenkunft der letzten Tage, auf denen nicht irgendjemand den aus einem chinesischen Kurzvideo  bekannten Fußgruß namens "Wuhan Shake" vorgeführt hätte oder den Ellenbogengruß anstatt des Händeschüttelns.

Und das weitverbreitete Gelächter über die kalifornische Gesundheitsbeamtin, die erst öffentlich vor Berührungen des eigenen Gesichts warnt und dann mit der Zunge den Finger zum Umblättern anfeuchtet  – hat nach meiner Beobachtung tatsächlich dazu geführt, dass Menschen sich Gedanken über ihre unbewussten Gewohnheiten machen.

Die ohnehin ziemlich guten, offiziellen Informationen , was man tun und lassen möge, werden gag-angereichert über soziale Medien verbreitet. Selbst die Angstkommunikation entfaltet – zumindest teilweise – eine gewisse, positive Wirkung: Sie erhöht den Anreiz zu weniger gefährdendem Verhalten der Vielen. Und genau das entscheidet über Menschenleben in großer Zahl. Ich konnte in der Öffentlichkeit jede Menge Menschen beobachten, die sich in die Armbeuge geniest oder gehustet haben  – was ich bis vor ein paar Wochen nie zuvor sah.

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Gemeinschaft

Schließlich wird in sozialen Medien noch etwas sichtbar: kollektive Empathie, mit Kranken wie mit denen, die gegen das Virus arbeiten. Die unfassbaren Leistungen der Gesundheits- und Pflegebeschäftigten werden öffentlich gewertschätzt. Wer weiß, vielleicht folgt darauf sogar eine überfällige finanzielle Wertschätzung.

In der deutschen Abteilung der größten Social-News-Plattform der Welt, Reddit.com, erschien Anfang März der persönliche, unterhaltsame wie informative Bericht einer Person in Quarantäne , immer wieder wird er aktualisiert, werden Fragen beantwortet, mehr Einblick und Identifikation geht kaum. Die Reaktionen sind überwältigend positiv, die Dankbarkeit für einen Einblick in eine Art privates Weltgeschehen ist spürbar.

Selbst die schlechten Witze und Videos über den Massenansturm auf Klopapier und Nudeln stiften eine konstruktive Form von gemeinschaftlichem Verhalten: Niemand möchte zu den kopflosen Panikkäufern gehören, auf diese Weise wird schädliches Sozialverhalten mit Spott sanktioniert und ich glaube, dass das eine Wirkung hat.

Es wundert mich auch nicht, dass etwa in Italien bei Spendenaufrufen in sozialen Medien in wenigen Stunden Millionensummen zusammenkommen. Ist vielleicht sogar eine Form von Zusammenrücken in sozialen Medien spürbar? Solidarität oder Menschlichkeit gar? Ich glaube schon, und es wärmt mein Herz. Wie gut könnte es erst werden, wenn Ähnliches zum Beispiel auch mit den Notleidenden von Lesbos geschähe. Alles hier viel zu positiv dargestellt? Das wird man ja wohl noch träumen dürfen.

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