Sascha Lobo

S.P.O.N. - Die Mensch-Maschine Note Sieben

Edward Snowden hat nicht nur einen antidemokratischen Spähapparat enthüllt, sondern damit auch ein massives Versagen der Regierungen. In Schulnoten ausgedrückt hagelt es Sechsen - etwa für die USA, Neuseeland, Frankreich oder Deutschland.

"Ich war beim Rabbi und habe ihn gefragt, ob ich beim Beten rauchen darf. Er war schockiert, wie ich auf so einen Unfug komme und hat nein gesagt."

"Du bist ja auch blöd. Hättest du gefragt, ob du beim Rauchen auch mal beten darfst, er hätte sicher ja gesagt."

Dieser famose jiddische Witz zeigt den Erkenntnisgewinn, der im Perspektivwechsel liegen kann. Spaßeshalber also ließe sich die Totalüberwachung nicht als Abschaffung der Grundrechte aus krankhafter Spähsucht von Behörden und Politik betrachten. Sondern als Test: Wie reagieren Demokratien auf Bedrohungen von innen, also genau auf die Gefahren, die per Verfassung abgewehrt werden sollen? Hefte raus, Klassenarbeit, liebe Regierungen, Maßstab ist nichts als der eigene Anspruch in Wort und Schrift.

Zu beginnen mit Barack Obamas Regierung. Vor der Wahl zum Präsidenten sprach Senator Obama mit viel Pathos von Grundrechten, gegen Überwachung, für Pressefreiheit. Inzwischen nennt Pulitzer-Preisträger James Risen Obama "die größte Bedrohung für die Pressefreiheit dieser Generation" . Das Versprechen auf der Webseite des Weißen Hauses, Whistleblower unter besonderen Schutz zu stellen, hat Obama still getilgt . Stattdessen - eine fast vergessene Aggression - zwangen seine durchgedrehten Behörden zu Beginn der Snowden-Enthüllungen sogar das Flugzeug des bolivianischen Staatspräsidenten zur Landung. Weil man dort Whistleblower Snowden vermutete.

Dessen Enthüllungen offenbarten bekannterweise ein weltweites, hyperradikales Überwachungssystem, das Grundrechte nicht bloß bricht, sondern faktisch abschafft. Ein Internet-Mem zeigt die US-Präsidenten Nixon und Obama, darunter steht: Der eine hörte ein Zimmer im Watergate-Hotel ab und trat zurück. Der andere hört alles und jeden ab und bleibt im Amt. Der zweite Satz ist grammatisch in der korrekten Zeit formuliert, Präsens: Es hat sich nichts geändert. Der größte Überwachungsskandal jemals - und niemand ist zurückgetreten. Und alle Überwachungstechnologien sind immer noch aktiv. In Noten ist das natürlich eine glatte Sechs, Obama hat sich als fallhöhenoptimierte Enttäuschungsgranate erwiesen, als ein Präsident, der in Sachen Grundrechte viel versprach und davon erheblich weniger als nichts einlöste.

Neuseelands Premier hat die Totalüberwachung zugelassen

Aber es ist natürlich leicht, auf dem Klassenprimus herumzuhacken. Wie sieht es am anderen Ende der Welt aus? In Neuseeland hat sich kurz vor den Wahlen Premierminister John Key als Überwachungs-Leugner und -Lügner herausgestellt. Die unter anderem von Snowden und Greenwald erzählte Geschichte : Der konservative Key hat nicht nur die Totalüberwachung der Bevölkerung zugelassen, sondern die Öffentlichkeit anschließend darüber belogen. Inklusive eines knapp durch das Parlament geprügelten Gesetzes zur Regelung der Überwachung, das faktisch offenbar das Gegenteil des öffentlich erklärten Zwecks bewirkte. Und auch bewirken sollte. Key hat das inzwischen auch indirekt zugegeben, drei Tage vor den Wahlen, und das ist natürlich eine klare Sechs mit Bonussternchen wegen erzwungener Ehrlichkeit.

Unterdessen in Frankreich: Als die Sozialisten in der Opposition waren, wetterten sie gegen die weitreichenden Überwachungspläne von Sarkozy. Zu Recht. Mitte September 2014 verabschiedet die sozialistische Regierung unter Hollande ein neues Anti-Terror-Gesetz, das selbst konservativere Zeitungen als "gefährlich" bezeichnen. Unter anderem sieht es Netzsperren nach Gutdünken des Innenministeriums vor, ganz ohne Richterkontrolle. Gleichzeitig ermuntert das Gesetz Provider zur vorauseilenden, proaktiven Überwachung ihrer Netzwerke . Das ist nicht nur eine neue Ebene der Überwachungsüberwachung - das ist auch eine mutige Sechs plus. Denn das Gesetz ist noch nicht verabschiedet, daher muss in der Benotung Spielraum nach unten bleiben.

Die SPD sprach 2013 vom "massenhaftem Grundrechtsbruch"

Aber wie fast immer muss man für vielsagende Versagensmeldungen gar nicht um die Welt fahren. Alles passiert auch immer in Deutschland, mit Deutschland, durch Deutschland. Das deutsche digitale Demokratiedesaster wird offenbar, wenn man die amtierende, rot-schwarze Regierung an ihren eigenen Worten zur Aufklärung der Totalüberwachung misst. Von der SPD wurde 2013 noch von "massenhaftem Grundrechtsbruch" gesprochen, die Kanzlerin sah "Vertrauen zerstört". Davon geblieben ist außer geheimgehaltenen, hypothetischen Drohszenarien nichts als der parlamentarische Untersuchungsausschuss. Und der wird durch Angela Merkels Bundesregierung gezielt behindert.

Um den Nullwillen zur Aufklärung zu erahnen, muss man sich nur die Arbeit des NSA-Untersuchungsausschusses vor Augen führen, der versucht, anhand von Akten aufzuklären. Die Bundesregierung traut sich nämlich ernsthaft, dem Parlament weitgehend geschwärzte Akten vorzulegen.

Hans-Christian Ströbele zeigt diese Farce , indem er eigentlich verbotenerweise im Volltext aus den Akten zitiert:

"Sehr geehrte Damen und Herren, in der obigen Angelegenheit teilen wir Ihnen Folgendes mit…".

Dann folgen vier vollständig geschwärzte Seiten. Wieder lesbar ist:

"mit freundlichen Grüßen."

Und sogar Patrick Sensburg (CDU), Vorsitzender des NSA-Untersuchungsauschusses, ist laut Berichten anderer Ausschussmitglieder der Meinung, die Informationspolitik der Bundesregierung dem Parlament gegenüber sei "so nicht haltbar, auch rechtlich nicht." Er fordert, die Regierung müsse Gründe für jede Tilgung nennen und "weite Teile der Schwärzungen zurücknehmen".

Das also tut die Bundesregierung, um den größten Spähangriff aller Zeiten aufzuklären, um zum fortdauernden Grundrechtsbruch Licht ins Dunkel zu bringen: schwärzen. Vor dem gewählten Parlament. Als Note eine glatte Sieben. In der Gesamtbewertung zeigt sich: Weltweit haben die Dokumente von Edward Snowden zunächst einen antidemokratischen Spähapparat enthüllt. In der Folge haben sie auch massives Regierungsversagen offenbart, ein totales, vollständiges, nachhaltiges Versagen demokratischer Kontrolle. Und zwar genau auf der Ebene, für die Verfassungen ursprünglich geschrieben wurden, zum Schutz der Bürger vor den Staatsgewalten.

tl;dr

Verfassungen nerven beim Überwachen und Regieren bloß, finden jedenfalls Regierungen weltweit.

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