Das Web "danach" Die Zeit steht still
Amerikas dunkelste Stunde hat auch das Web verändert. Minuten nach dem Einschlag des ersten Passagierflugzeuges in den Nordturm des World Trade Center liefen die Schockwellen um die Welt. Erstmalig in der Geschichte der Medien hätte man sie wahrscheinlich sogar elektronisch messen können: Als abrupten Anstieg des Datenverkehrs im Web, als Welle kollabierender News-Websites.
CNN gehörte zu den ersten Angeboten, die unter dem Nachfragedruck in die Knie gingen. Über Stunden war ein Aufruf der Seite überhaupt nicht möglich, später gab es eine knappe Notseite.
SPIEGEL ONLINE erwischte die Schockwelle knapp zehn Minuten nach dem Anschlag: Innerhalb weniger Minuten. vervierfachte sich die Zahl der Seitenaufrufe. Doch das war erst der Anfang. Schnell wurde klar, dass auch SPIEGEL ONLINE eine Vorschaltseite brauchen würde. Binnen einer Stunde war alles geregelt: Die Last wurde auf mehrere Server verteilt, zeitweilig komprimierte WTC-Newsseiten angeboten.
Die Hektik zu beschreiben, die am 11. September und in den folgenden Tagen in Online-Redaktionen rund um den Globus herrschte, wäre schwer. Mit den Meldungen und Artikeln, die allein bei SPIEGEL ONLINE innerhalb weniger Tage entstanden, könnte man Bücher füllen. Weltweit arbeiteten Onlineredakteure daran zu beweisen, dass letztlich das Web das ultimative aktuelle Informationsmedium ist - nicht Fernsehen, nicht Radio, nicht Zeitung.
Denn im Web kommt die Stimme der Betroffenen hinzu, die Kommunikation der Menschen miteinander. Neben den Onlineredaktionen arbeiteten zahllose Augenzeugen und Surfer einfach aus ihrer Erschütterung über die Ereignisse heraus daran, diese Stunden des 11. September irgendwie festzuhalten.
Irgendwann, Tage nach dem 11. September, fragte irgendwer, ob jemand daran gedacht habe, Screenshots von den eigenen Seiten zu machen. Längst waren die "Notseiten" wieder verschwunden, unwiederbringlich.
Wenn es nicht Leser wie Nils Peters gäbe. Der hatte von zahlreichen Webseiten Screenshots erstellt und diese als Dokumentation bereits am Abend des 12. September auf einer Website veröffentlicht - als Dokumentation des Horrors - und der wohl bisher größten Stunden des Online-Journalismus.
Denn für einige Tage im September war das Internet nicht nur auf dem Weg zum Massenmedium, es war reinstes Massenmedium.
Warum eigentlich? Man muss sich das wirklich fragen
Der Kollaps des WTC ist das Dallas dieser Generation: Die Bilder werden wir alle bis an unser Lebensende im Kopf tragen. Nirgendwo sah man mehr als im Fernsehen: Was machten all die Millionen vor ihren Rechnern, wo man auf dem anderen Bildschirm doch so viel mehr sah?
Sie suchten Hintergrundinformationen in einer Reihenfolge und Richtung, die sie selbst bestimmen wollten, glaubt Patrick Illinger, Chefredakteur der "Süddeutsche Zeitung Online". "Man konnte sich der grausamen Faszination der Fernsehbilder nicht entziehen", sagt Illinger, "aber die Komplexität des Themas war im Web ideal aufgehoben".
Das trifft es genau. Dass das Web grundsätzlich das Potenzial hat, dem Leser Quellen zu erschließen, ihm quasi in Echtzeit ein Themenarchiv in Entstehung zu bieten, all das war immer Teil der Vision des Online Publishing. Nie wurde das klarer als am und nach dem 11. September.
Volker Pfau, Leitender Redakteur bei der "Rheinischen Post Online", erlebte, wie die RP-Website spät am 11. September zum "reinen Textangebot" wurde. Die Regionalzeitung, bundesweit einer der Vorreiter im Online Publishing, wurde zur ultraschnellen, aber auch ultraknappen Meldungsseite. Am Ende ging die RP nur deshalb nicht in die Knie, weil ein Webmaster auf die Idee kam, die Chatmaske zum Nachrichtenticker umzufunktionieren. Näher waren sich Online Publishing und "freies Web" wohl selten.
"Die Menschen", sagt Pfau, "suchten nach dem sekundären Informationsmedium". Und meint damit, dass in dieser erschütternden Nacht wohl niemandem nur die Bilder reichten. Die Nachrichten in TV und Radio wiederholten sich ein ums andere Mal, drehten sich, erfuhren nur allmählich eine Aufstockung, eine Abrundung. Währenddessen arbeiteten Zeitungs- und Onlineredakteure längst schon am Background. Online war der fast sofort zu sehen, in der Zeitung am nächsten Morgen.
Luft bekamen die Server zur "Tagesschau"-Zeit, sagt Pfau. Danach kamen die Surfer wieder.
Und holten sich "Sekundärinformationen", Hintergründe, oder die einzigen Informationen, die es verdienen "primär" genannt zu werden.
In Amerika entstehen nun Projekte, die diese Nacht im Internet zu konservieren suchen. All die Onlineberichte, all die Augenzeugenberichte, die verzweifelten Chat-Aufrufe, die Suche nach Freunden und Verwandten. "September11" von Interactivepublishing.net (Kanada/Schweiz) hat sich vorgenommen, Screenshots von Newsseiten aus aller Welt zusammenzutragen.
Mehr noch will der "Webarchivist", ein Gemeinschaftsprojekt von Internet Archiv und der Library of Congress. Neben den Newsseiten setzt dieses ambitionierte Projekt auf die Mithilfe der Surfer in aller Welt, auch private Sammlungen, Berichte und andere Beiträge zu erfassen. Bis zum Ende des Monats soll ein umfangreiches, weiterhin auszubauendes Archiv des 11. September entstehen.
Das Ziel: Die Zeit zum Stillstand zu bringen. Den 11. September im Internet für alle Zeit zu einem Tag zu machen, den man wieder und wieder bereisen kann.
"Das Web", heißt es auf den Seiten von Interactivepublishing, "hat kein Gedächtnis. Außer man macht es."