S.P.O.N. - Die Mensch-Maschine Die größte digitale Lüge
Anfang März 2012 änderte Google seine Nutzungsbedingungen so, dass die Nutzerrechte nach Auffassung von Experten geschmälert werden. Das ist auf mittlere Sicht vermutlich nicht so schnafte, aber genau kann man es nicht sagen, weil allein in der neuen Datenschutzerklärung fünfzehn Mal das Wort "möglicherweise" vorkommt - ein grandioses Eingeständnis tatsächlicher oder vorgeschobener Planlosigkeit. Möglicherweise. Wirklich verstörend dagegen ist eine andere Erkenntnis: Google hätte in seinen neuen Allgemeinen Geschäftsbedingungen auch die Zerstörung des Planeten Merkur als wichtigstes Unternehmensziel festschreiben können - die Mehrheit der Nutzer hätte mit einem Klick akzeptiert. Der Grund dafür trägt einen Namen, Convenience, was mit Bequemlichkeit nur unzureichend übersetzt werden kann. In der digitalen Sphäre schwingen darin auch Nutzerfreundlichkeit und Einfachheit mit.
Convenience hat sich zur Supermacht im Netz entwickelt, gegen Convenience anzukämpfen, ist wie eine Lawine zum Umkehren zu überreden. Sie ist aber auch die dunkle Seite der Usability, weil supereinfache Benutzbarkeit zwar grundsätzlich zu begrüßen ist - aber auch einer stark simplifizierten Oberfläche bedarf, unter der wiederum viel verborgen werden kann. Convenience bedeutet in der digitalen Welt zu oft Einfachheit um den Preis der Transparenz und der Wahlmöglichkeit. Natürlich ist es nicht neu, Convenience wirtschaftlich auszunutzen. Konsum und Bequemlichkeit gehen von jeher Hand in Hand. "Faulheit ist die Triebfeder des Fortschritts", lautet ein deutsches Sprichwort, und das gilt auch für den digitalen Fortschritt. Larry Wall, Erfinder der Programmiersprache Perl, befand für die drei wichtigsten Eigenschaften guter Programmierer: Faulheit, Hybris und Ungeduld. Denn geduldigen, fleißigen Entwicklern würde die Motivation fehlen, langweilige, mühsame Aufgaben zu vereinfachen.
Alles immer überall sofort
Mit der digitalen Vernetzung hat die Macht der Bequemlichkeit eine neue Dimension erreicht. Die Technologieberatung Gartner hat fünf kommende Großentwicklungen ausgemacht : Verbraucherorientierung, Virtualisierung, Verappung, die eigene Cloud und die mobile Vernetzung. Obwohl Gartner dafür den labberigen Begriff "Megatrend" verwendet - sonst ein verlässliches Zeichen, dass man die so benannte Entwicklung gefahrlos ignorieren kann - treffen diese Beobachtungen zu. Und alle fünf stehen für die technologische Anpassung an die Bedürfnisse der Bequemen. Convenience heißt in der digitalen Sphäre inzwischen: alles immer überall sofort.
An dieser Fortentwicklung ist nichts Grundsätzliches auszusetzen, schließlich erhöht zum Beispiel die Möglichkeit des Sofort nur die Wahlfreiheit: niemand ist gezwungen, etwa ein E-Book sofort herunterzuladen. Aber es ist gut, dass es geht. Allerdings - und genau darin begründet sich die Problematik der Convenience - muss man mühsam lernen, mit ihr umzugehen. Oder viel mehr: müsste man mühsam lernen, denn das Internet entwickelt sich schneller, als die Nutzer dazulernen. Das Web 2.0 ist bereits überholt, aber der User 2.0 ist gerade mal beta.
Digitale Convenience ohne Netzbewusstsein ist gefährlich
Die Annehmlichkeit, ein digitales Gut mit einem Klick bequem zur Verfügung zu haben, bezahlt man bei fehlender Kenntnis der Materie unter anderem damit, dass man Vereinbarungen großer Tragweite zustimmt, ohne sie auch nur zu kennen. "Sofort" ist einfach zu schnell vorbei für das Kleingedruckte. Die häufigste digitale Lüge ist zweifellos der Klick auf "Ja, ich habe die AGB gelesen" - ein Umstand, der von vielen Unternehmen einkalkuliert werden dürfte. Die Nutzungsbedingungen allein des iTunes Stores von Apple zum Beispiel beinhalten über 120.000 Buchstaben, das entspricht etwa zwanzig Mensch-Maschine-Kolumnen. Und doch regeln die Allgemeinen Geschäftsbedingungen der großen Netzkonzerne die digitale Welt. Was verboten ist und was nicht, wie Geld verdient werden kann und wie nicht, welche Nutzung willkommen ist und welche nicht, die Antworten finden sich in den AGB.
Es wird nicht mehr lange dauern, bis sich die Frage stellt: Was ist ausschlaggebend - das Grundgesetz oder die AGB von Facebook? Der weitsichtige Harvard-Professor Lawrence Lessig hat vor zwölf Jahren den Satz "code is law" geprägt, was heißt: Programmierer erschaffen die digitalen Gesellschaftsstrukturen. Und Convenience bedeutet, diesen Strukturen zu folgen, einfach so, klick. Darin liegt der Schlüssel zum richtigen Umgang mit der Macht der Bequemlichkeit: Der Nutzer darf sich nicht daran gewöhnen, sondern muss sich bei aller Einfachheit damit auseinandersetzen, was eigentlich passiert, wenn man auf "I accept the terms of service" klickt. Letztlich gibt es auch im Digitalen keinen einfachen Weg, die Anstrengungen verschieben sich lediglich und können so besser ausgeblendet werden.
Digitale Convenience ohne Netzbewusstsein ist gefährlich, und Netzbewusstsein wiederum setzt eine gewisse Nerdigkeit voraus, also ein Verständnis und ein Gespür für die Funktionsweisen der Technologie. An der Schwelle zu einem digital vernetzten Zeitalter braucht es deshalb vielleicht eine neue digitale Aufklärung: Die digitale Aufklärung ist der Ausgang des Nutzers aus seiner selbstverschuldeten Unnerdigkeit. Noch mag es nicht soweit sein, und das Internet samt seiner unerbittlichen Convenience lässt sich komplett ausblenden: Die analoge Welt funktioniert noch immer wesentlich besser, als der Durchschnittsnerd glaubt. Man kann auch 2012 noch ohne Internet knapp überleben. Aber bald schon, in einer weitgehend von Nutzungsbedingungen bestimmten digitalen Gesellschaft, wird nur die Kenntnis der vernetzten Zusammenhänge davor bewahren, der Convenience in die Falle zu gehen. Die Vernerdung der Welt als einzige Chance.
tl;dr
Die Macht der Convenience bestimmt die digitale Welt. Um ihrer Herr zu werden, bleibt der Gesellschaft nur die Vernerdung.