S.P.O.N. - Die Mensch-Maschine Lob der Okayheit
Was hat das Internet gebracht, das wirklich neu wäre? Neu in dem Sinn, dass es nicht offensichtliche, analoge Vorläufer hätte? Die Frage scheint merkwürdig angesichts von Leuten, die ihr Mittagessen fotografieren und auf Facebook besprechen, unwahrscheinlich, dass breite Bevölkerungsschichten irgendwann Holzstiche von ihren Vesperbroten auf dem Marktplatz zur Diskussion gestellt haben.
Auf den anderthalbten Blick ist die Frage nicht mehr merkwürdig, denn retrospektiv betrachtet hat sich das Netz um gesellschaftliche Bedürfnisse herum entwickelt. Diese Bedürfnisse gab es in den meisten Fällen schon vorher und auch entsprechende Möglichkeiten der Bedürfnisbefriedigung. Single-Börsen - auf Papier seit Jahrzehnten. Berufliche Netzwerke - wurden Jobs je anders vergeben als über Beziehungen? Ausufernde Archive, Plattformen zum Austauschen und zum Tauschen, Kommunikationsinstrumente aller Art, das Netz hat ein enormes Volumen digitaler Entsprechungen von längst vorhandenen Erfindungen bereitgestellt.
Etwas wirklich Neues aber findet sich tatsächlich im Beispiel vom Anfang. Sein Mittagessen hätte man zuvor mit drei Kollegen besprochen, die gezwungen sind, in derselben Kantine zu essen. Mit den sozialen Medien gibt es eine bisher ungesehene, tatsächlich neue Vermischung von persönlicher Kommunikation und Öffentlichkeit.
In seinem neuen Buch "Der entfesselte Skandal" geht der Medienwissenschaftler Bernhard Pörksen den Extremfällen nach, den Shitstorms, Skandalen, Sensationen. Seine These lautet verdichtet: Dahinter steht die Kontextverschiebung. Und tatsächlich lassen sich sehr viele digitale Empörungswellen darauf zurückführen, dass ein bedenkenlos den Freunden hingeworfener Halbsatz eine ungeahnte Öffentlichkeit erfährt.
Die Verschmelzung des privaten Gesprächs mit einer digitalen Öffentlichkeit, die im Zweifel zur Weltöffentlichkeit werden kann, das ist eine neue Qualität des Internet. Und der von Pörksen beschriebene, digital befeuerte Skandal seine anstrengende Seite. Doch es gibt auch eine völlig unterschätzte, wunderbare Seite dieser Vermischung, eine Facette der sozialen Medien, die das Potential hat, größer und wirksamer zu werden als jeder Shitstorm.
Jeder, der soziale Netzwerke benutzt, betreibt digitale Echtzeitethnografie
Die sozialen Medien bringen in die Öffentlichkeit, was zuvor als höchst privat galt, sie erlauben daher dem Einzelnen, völlig unbekannten Menschen sehr nah zu kommen. Zwei, drei, vier Klicks auf Facebook oder Twitter, und man lauscht privaten Gesprächen, die man ohne das Netz niemals hätte wahrnehmen können. Geführt, als gäbe es kein Publikum. Ein digitaler Blick in die Köpfe, wo die eben noch gefährliche Bedenkenlosigkeit jetzt schon eine unerhörte, ungefilterte Nähe erlaubt. Jeder, der soziale Netzwerke benutzt und ein bisschen umherstromert, aus welchen Motiven auch immer, betreibt digitale Echtzeitethnografie.
Und was dort sichtbar wird, gehört zum Erstaunlichsten, was das Netz bereithält. Die erste Überraschung ist, dass die eigenen Freunde, die man doch irgendwie zu kennen glaubte, im Detail absonderliches Zeug von sich geben. Es wird deutlich, wie sehr man sich sein Umfeld zurechtgebogen und in soziale Wunschförmchen gepresst hat.
Da ist der promovierte Klassikliebhaber, der das lange Jahre mühsam aufgebaute Bild des sanftmütigen Philantrophen mit einer einzigen hasserfüllten Bemerkung zerstört. Irgendwer, den man eigentlich für intellektuell fragwürdig hielt, postet jedoch überraschend Fotos von Igelbabys, eine völlig unterschätzte Qualität. Und jemand Drittes liket gleichzeitig die Facebook-Seiten von FDP und Linkspartei und entzieht sich damit charmant und geschickt allen plumpen, schubladenhaften Einordnungsversuchen. Oder ist bescheuert.
Die zweite Überraschung aber ist noch größer, sie betrifft die Leute außerhalb des eigenen Umfelds. Und sie findet nicht nur auf Facebook statt, sondern im gesamten, sozial geprägten Internet, überall dort, wo Leute einen Einblick nie gekannter Tiefe in ihr eigenes Leben preisgeben, und zwar für alle, die danach googeln. Diese zweite Überraschung ist die ungeheure Verschiedenartigkeit der Menschen. Die anderen Menschen sind auf völlig andere Art anders als angenommen, sogar innerhalb eines ethnisch mäßig durchmischten Landes wie Deutschland. Erst recht aber darüber hinaus. Die Standardabgeklärten, schon vorher Coolen, bräsig Nie-Geschockten werden erklären, dass ihnen das alles selbstredend schon vorher klar war. Und doch, in fünf Minuten fünf schriftlichen Gesprächen zu lauschen aus fünf sozialen Dimensionen, das ist neu.
Die sozialen Medien als Konfrontationstherapie für Intolerante?
Und das gibt Anlass zur Hoffnung, denn es gibt einen Zusammenhang zwischen Intoleranz und Unkenntnis des Andersartigen. Ein hoher Anteil der gesellschaftlichen Großdebatten der letzten Jahre drehte sich um Toleranz. Vorhäute, Homoehe, Sarrazin - im Kern handelt es sich um Diskussionen über den Umgang mit den anderen, zu denen man selbst nicht gehört. Selbst hinter der theoretischen Wirtschaftsdiskussion um die vielen Euro-Rettungsschirme lauert ein nationalistisch gefärbtes "Wir" gegen "Die", zwei Begriffe, um die man gar nicht genug Anführungszeichen herumsetzen kann.
Was passiert langfristig, wenn es mit sozialen Medien nun möglich ist, in die Köpfe und Gespräche hineinzusehen? Wird es völlig egal sein, weil kaum jemand die Möglichkeit nutzt? Oder setzt sich mit dieser digitalen Nähe die Toleranz der Andersartigkeit flächendeckend durch? Sind die sozialen Medien durch ihre Vernetzung der Verschiedenheiten sogar eine Art Konfrontationstherapie für Intolerante?
Wenn man annimmt, dass beide Extreme nicht zutreffen werden, sondern irgendetwas in der Mitte herauskommt, dann entsteht ein neues Gesellschaftsbild, das hier den Namen Okayheit bekommen soll: "Andersartigkeit ist okay". Okayheit verbindet eine Reihe von sehr unterschiedlichen Haltungen wie Resignation, Toleranz, Desinteresse, Empathie und Gleichgültigkeit zu einem leicht widersprüchlichen Amalgam, das aber am Ende in allen Varianten die gleiche Wirkung hat: es einfach okay sein zu lassen. Ungefähr so, wie man nach dem fünfhundertsten fotografierten, veröffentlichten und diskutierten Mittagessen einfach keine Kraft mehr hat, sich darüber aufzuregen und es eben nur noch "okay" findet. Natürlich ist Okayheit eigentlich Toleranz für Bequeme, aber immerhin! Immerhin. Ein Lob der Okayheit.
tl;dr
Soziale Medien könnten (vielleicht) als Konfrontationstherapie wirken und vielleicht nicht gleich Toleranz, aber immerhin Okayheit fördern.