E-Book-Leser Welche Geschichten das Kindle braucht

Den Kindle-Machern fehlt die Phantasie. Alle sprechen vom digitalen Buch, kaum jemand von Textformen, die als Download funktionieren könnten: Kurzgeschichten, literarische Reportagen, Romanreihen. Das Kindle könnte die Tyrannei der langen Texte beenden - ein Relikt der Buchdruck-Zeit.

Was spielt ein iPod ab? Musik - was für eine dämliche Frage. Und was liest man mit Amazons neuem Kindle 2? Bücher , behauptet alle Welt. Amazon nennt auf seiner Produktseite das Kindle "Reading Device", und das ist deutlich treffender. Denn warum sollte man mit einem Text-iPod nur Bücher kaufen, also laut Unesco-Definition "nichtperiodische Veröffentlichungen mit mindestens 49 Seiten Umfang"?

Sehr lange Texte gedruckt und gebunden zu verkaufen, war viele Jahrzehnte lang ein erfolgreiches Geschäftsmodell. Buchverlage haben bislang kein anderes erprobt, deswegen heißen sie auch so. Davon sollte sich aber niemand in die Irre führen lassen. Nur ist das Buch ein Produkt, wie es im Musikvertrieb das Album war, bevor Download-Shops wie Apples iTunes Schluss damit machten. Wer ein Lied mag, kauft sich heute bei iTunes für 99 Cent dieses eine Lied.

Natürlich kann man diese Revolution nicht einfach so auf den Digital-Vertrieb von Texten übertragen. Romane kapitelweise zu vertreiben, wird kaum funktionieren. Aber literarische, unterhaltende, fiktive Texte auf Romane und Bücher zu reduzieren, ist ein Wahrnehmungsfehler. So hat das in den vergangenen Jahrzehnten funktioniert, weil es für Verlage, Buchhändler und alle anderen Beteiligten am einfachsten war, zweimal im Jahr eine kleine Auswahl Romane als gebundenes Buch für knapp 20 Euro zu verkaufen.

Das war nicht immer so: Autoren wie Nikolai Gogol, Guy de Maupassant, Edgar Allan Poe und Anton Tschechow waren berühmt für ihre Kurzgeschichten und Erzählungen. Und die sind zuerst oft in Zeitschriften und Zeitungen erschienen - als kurze, schnelle, unterhaltende Lektüre für einen Abend.

Lustlose Leser

Wie man solche kurzen Stücke ohne Zeitschrift drumherum in Buchhandlungen verkaufen kann, hat kein Verlag ausgeknobelt. Warum auch - dicke, teure Bücher als Geschäftsmodell liefen und laufen wunderbar. Der Umsatz pro verkaufter Einheit ist wunderbar hoch (im Vergleich zu Magazinen zumindest), eine überschaubare Menge an Romanen und dazugehörender Autoren ist leichter zu vermarkten als eine Flut an Kurzgeschichten. Die sind heute etwas für obskure literarische Zeitschriften und Sammelbände mit knapp vierstelliger Auflage.

Warum eigentlich? Jahr für Jahr beklagen Verleger, Buchhändler und Kulturverwalter, dass "Jugendliche und Erwachsene in Deutschland" die "Lust am Lesen" verlieren - fassten im Dezember Zeitungen eine Studie der Mainzer Stiftung Lesen zusammen. Die Umfrage der Forscher hatte ergeben, dass 2000 noch fast jeder dritte Bundesbürger zwischen 11 und 50 Bücher im Jahr las, 2008 aber nur noch jeder vierte. Der Börsenverein des Deutschen Buchhandels interpretiert seine Studie "Leser und Buchkäufer 2008" ganz ähnlich. Die Verbandszeitschrift "Börsenblatt" schrieb, die "Leseintensität" habe abgenommen, weil 43 Prozent der Befragten angegeben haben, weniger als neun Bücher im vergangen Jahr gelesen zu haben.

Das hat viele Gründe, aber über einen ist bislang erstaunlich wenig diskutiert worden. Ganz marktwirtschaftlich formuliert: Könnte es sein, dass man mit einem anderen Produkt als dem Buch neue Käufergruppen für Literatur gewinnen könnte?

Keine Ahnung, ob ein Fortsetzungsroman mit Episoden zu 99 Cent in Amazons Text-iTunes funktionieren kann. Vielleicht nicht. Vielleicht hat so etwas zurecht zuletzt Charles Dickens im 19. Jahrhundert in Tageszeitungen veröffentlicht. Aber wer weiß es - auf einem Vertriebsweg wie Amazons Kindle hat das ja noch niemand versucht.

Eilige Bücher für eine eilige Zeit?

Denn leider denken alle in Büchern, wenn es um das Kindle und Download-Shops für Literatur geht. Dabei könnte die Kurzgeschichte als 99-Cent-Download ganz neue Fans finden. Hier könnte man Texte verkaufen, die es nie in eine Buchhandlung schaffen würden. Und wenn doch, dann nur gut getarnt in einem Sammelband: Erzählungen, literarische Reportagen, Glossen, Essays, Kurzgeschichten. Und warum eigentlich nicht auch Fortsetzungsromane oder Heftchengeschichten wie Perry Rhodan?

Der Online-Vertrieb solcher Kurztexte könnte eine ganz neue Vermarktung ermöglichen - Empfehlungslisten, Facebook-Anwendungen, RSS-Feeds statt Verlagsvertretern und gedruckten Halbjahreskatalogen. Und der Freundin mischt man dann neben dem Mixtape noch eine Kurzgeschichtensammlung.

Ob das als Produkt funktioniert, weiß niemand. Und das wird auch nie jemand erfahren, solange Verlage online ausschließlich in buchhandelskompatiblen Textformen denken.

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