Facebook als Betriebssystem Das persönliche Internet
Man muss sich entscheiden: Pirat oder Ninja? Über 140.000 Piraten gibt es schon, und sogar noch ein paar Ninjas mehr. Die tun eigentlich nichts, aber trotzdem rekrutieren jeden Tag Piraten neue Piraten und Ninjas neue Ninjas. "Pirates vs. Ninjas" ist eine der mittlerweile weit über 2600 Anwendungen, die externe Entwickler für die Community-Plattform Facebook entwickelt haben.
Ich bin Pirat. Weil ein Freund von mir mich dazu gebracht hat. In meinem Facebook-Profil ist nun das Bild eines Piraten, darunter steht, dass ich bislang null Piraten rekrutiert habe. Weil man innerhalb der Piratenränge nur aufsteigt, wenn man selbst neue anwirbt. Es ist eine Art harmloses Pyramidensystem, das sich der Entwickler von "Pirates vs. Ninjas" ausgedacht hat. Verlieren kann man dabei nichts - nur Zeit. Und genau das ist der Haken.
Seit Wochen sind Facebook und die ständig sprießenden Erweiterungen der Plattform das Lieblingsthema der Technikblogger aus den USA. Die einflussreichsten Vordenker der Web-Entwicklung reden ununterbrochen davon, stellen Listen mit ihren Lieblingsanwendungen auf, preisen Facebook als künftiges "Betriebssystem für das ganze Internet". Genährt wird dieser Gedanke von einer Akquisition: Facebook hat vor kurzem Parakey gekauft, angeblich ein "web operating system", erschaffen von den Firefox-Mitbegründern Blake Ross und Joe Hewitt.
Und: Seit der Öffnung des Netzwerks für externe Entwickler ist das einstige Studentennetzwerk rasant gewachsen. 1,3 Millionen sind seit Mai dazugekommen, und zwar vor allem durch den Zulauf nach Netzmaßstäben älterer Nutzer.
Was soll denn daran nun nützlich sein?
Im Juni waren laut den Marktforschern von Comscore Media Metrix 11,5 Millionen der Facebook-Besucher 35 Jahre oder älter. 41 Prozent aller Facebook-Besucher macht diese Altersgruppe aus. Mit MySpace - oder mit einem Netzwerk für Studenten - hat das nichts mehr zu tun. Sehr viele in der Branche sind überzeugt, dass sich gerade eine Entwicklung vollzieht, die vorzeichnet, wie das Netz der Zukunft aussieht.
Facebook lockt Nutzer aus anderen Netzwerken an - zum Beispiel aus den Business-orientierteren Clubs LinkedIn und dem in Deutschland beheimateten Xing. Tausende Mitarbeiter von Microsoft, Siemens und anderen Tech-Unternehmen sind dort versammelt. Aber warum?
Der Großteil der internen Anwendungen, die nach der Öffnung entstanden sind, oszilliert zwischen Spielerei und Blödsinn. Die Anwendungen heißen "Was ist dein Stripper-Name" (generiert einen Pornofilm-tauglichen Künstlernamen), "Glückskeks" (wirft jeden Tag einen mehr oder minder weisen Spruch aus) oder eben "Pirates vs. Ninjas". Aber natürlich gibt es auch Seriöseres, etwa die Möglichkeit, RSS-Feeds oder einen Kalender ins eigene Profil zu integrieren.
MySpace, Google, Ebay - alles auf einem Haufen?
Die Facebook-Evangelisten sehen die Sache so: Social Networking ist die Killer-Anwendung im Netz der Gegenwart und Zukunft. Die eigene Profilseite soll zum Dreh- und Angelpunkt aller Online-Aktivitäten werden, eine Netz-Heimat - Home-Page im eigentlichen Sinne des Wortes. Ein Dienst, der diese Funktion mit allem anderen kombiniert, was man sonst noch so im Netz macht, YouTube-Videos suchen und ansehen etwa, oder eben Nachrichten lesen, sollte die perfekte persönliche Startseite sein. Gewissermaßen MySpace, YouTube, SPIEGEL ONLINE und Xing auf einem Haufen. Und Ebay - aber ein Auktions-Werkzeug für Facebook gibt es schon. Fehlt eigentlich nur noch eine Suchmaschine.
Und genau das ist das Problem: Für viele Dinge muss der Nutzer dann doch wieder hinaus aus dem ummauerten Garten Facebook - auch die Ebay-Anwendung durchsucht nur Angebote, wer aber bieten oder gar verkaufen will, muss selbstverständlich weg von Facebook und hin zu Ebay. Für Google gilt das gleiche.
Es gibt Alternativen - einfacher zu bedienen, ohne Freundschaftsanfragen und mit mehr Möglichkeiten
Die Suchmaschine gibt es als Plugin für Facebook bislang nicht - umgekehrt lässt sich Facebook aber in eine personalisierte Startseite innerhalb des Google-Reiches integrieren. IGoogle heißt die Plattform. Sie tut im Grunde das Gleiche wie andere, ältere Bausatz-Seiten wie Netvibes, Pageflakes und Windows Live. Die Seiten bestehen aus vielen kleinen Kästchen, die der Nutzer beliebig auf seiner persönlich konfigurierten Startseite herumschieben kann.
Facebook im Kästchen oder Kästchen in Facebook?
Er kann Kästchen hinzufügen oder wegklicken, sich genau die Informationen auf einen Blick zusammenstellen, die er gerne möchte: Den Posteingang des eigenen Googlemail-Accounts kann man sich bei Netvibes ebenso anzeigen lassen wie selbstverständlich bei iGoogle, ein Fensterchen mit dem lokalen Wetterbericht lässt sich ebenso einbinden wie die Nachrichten-Schlagzeilen der großen Anbieter - natürlich gibt es auch ein SPIEGEL-ONLINE-Kästchen. Auch ein RSS-Reader lässt sich integrieren. Und eins für Facebook - darin kann man sehen, ob im eigenen Profil neue Nachrichten angekommen sind, ob man eine Freundschafts-Anfrage bekommen hat oder eine Einladung zu einer Veranstaltung.
Im Grunde versuchen die Baukasten-Seiten und Facebook mit all seinen Erweiterungen das gleiche: Netz-Funktionen an einem einzigen Ort zu bündeln. Nur dass Netvibes und die anderen den Nutzer selbst entscheiden lassen, was er in die Mitte stellen möchte und was an den Rand - während Facebook die Netzwerk-Funktion zur Zentrale erklärt, um die alles andere herumgruppiert wird. Für die Entwickler von Anwendungen ist Facebook attraktiver - weil jeder Nutzer, der sich ein neues Feature ins eigene Profil holt, das automatisch all seinen Facebook-Freunden mitteilt. Das sorgt für virale Verbreitung, die Anwendungen vermarkten sich gewissermaßen selbst. Für den Nutzer dagegen hält sich der Gewinn in Grenzen.
Die Frage, die über die Zukunft des Netzes entscheidet, könnte also lauten: Facebook-Kästchen auf der personalisierten Homepage, zwischen Google, RSS-Feeds und einer Miniaturversion des eigenen E-Mail-Einganges - oder eben viele Kästchen in Facebook, umgeben von einem passwortgeschützten Wall, den nur übersteigen kann, wer sich selbst auch für den Dienst anmeldet.
Web-Guru erklärt "Facebook-Bankrott"
Im Augenblick tobt noch ein heftiger Streit darum, wo es denn nun hingehen soll - und es gibt auch schon die ersten Spötter, die Facebook für überholt erklärten. Jason Calacanis etwa, Netz-Guru, Gründer des Blogger-Unternehmens Weblogs, Inc. und heute bei Sequoia Capital, dem berühmtesten Venture-Kapitalgeber des Silicon Valley, hat vor kurzem seinen "Facebook-Bankrott" erklärt: "Ich komme nicht mehr nach mit den Freundschaftsanfragen, den Anfragen, ich soll bestätigen, das wir uns kennen, den Anfragen, Euch zu sagen, dass ich Euch mag, den Anfragen, Euch zu bitten, mir zu sagen, über welche Filme ihr mir was ezählen wollt, etc."
Er glaube, schrieb Calacanis in sein Blog, "dass die Leute von sozialen Netzwerken zersplittert werden". Raph Koster, legendärer Entwickler von Onlinespielen und auch so eine Art Software-Guru, schreibt: "Ich schenke meinem Facebook-Profil sehr wenig Aufmerksamkeit. Zu einem großen Teil deshalb, weil soziale Netzwerke mir zunehmend wie Eintagsfliegen vorkommen - sie scheinen eine bestimmte Lebenserwartung zu haben."
Ob Koster recht behalten wird oder nicht, ist völlig offen. Zwar gibt es Berichte, denen zufolge die Jugend nicht mehr auf E-Mail als Kommunikationsmittel setzt, sondern stattdessen über das soziale Netzwerk der Wahl kommuniziert - oder besser: die sozialen Netzwerke der Wahl, denn mehrere Konten zu haben gehört inzwischen für viele junge US-Amerikaner zum Standard. Das wiederum würde für die Baukasten-Lösung sprechen - denn so könnte sich auf einer einzigen Startseite das MySpace-Kästchen friedlich neben dem Facebook-Kästchen einnisten. Und wenn die jungen Leute irgendwann doch wieder E-Mails verschicken und bekommen wollen sollten, können sie ja auch dafür ein entsprechendes Kästchen hinzufügen.