
Vorgehen gegen Holocaust-Leugner Auf Facebook geht es um Leben und Tod


Doch eine Haltung: Facebook-CEO Mark Zuckerberg
Foto:Alex Wong / Getty Images
Bei Facebook ist etwas in Bewegung geraten, und jetzt sieht es aus wie eine Lawine. Der Verschwörungskult QAnon wird plötzlich mit Macht von der Plattform gedrängt, Holocaust-Leugnung global verboten und nun akzeptiert das Unternehmen auch keine Anzeigen von Impfgegnern mehr. All das wurde innerhalb einer Woche verkündet, die neuen Regeln zur Eindämmung von Wahlkampf-Desinformation kommen noch hinzu. Alles, was gefährlich ist, so sieht es aus, soll von der Bildfläche gefegt werden, von einer Lawine des Guten. Wie bei einer Lawine ist es aber auch hier schwer, im Nachhinein den Auslöser zu bestimmen.
War es die russische Desinformationskampagne im US-Wahlkampf 2016? Der Facebook-Livestream vom Angriff auf zwei Moscheen im neuseeländischen Christchurch 2019? Oder gaben den endgültigen Anstoß vielleicht erst die lebensgefährlichen Tipps zur Bekämpfung des Coronavirus 2020?
Facebook lernt jedenfalls, Haltung zu zeigen. Gründer und CEO Mark Zuckerberg hat offenbar eingesehen, dass seine Plattformen Facebook, Instagram und WhatsApp nicht nur Milliarden von gut meinenden Menschen vernetzen. Sondern dass antidemokratische, antisemitische, gewaltverherrlichende, gesundheitsgefährdende Botschaften dort alltäglich sind. Und dass sie zunehmend vom gesellschaftlichen Rand in die Mitte rücken, und von der Online- in die Offlinewelt: QAnon wird vom FBI als mögliche Terrorbedrohung eingestuft. Manche Menschen trinken wirklich Bleichmittel als vermeintliche Medizin gegen Covid-19. Und Zuckerberg selbst führt "die zunehmende antisemitische Gewalt" als Grund für sein Durchgreifen gegen Holocaust-Leugner an. Kurz: Er hat eingesehen, dass es darum geht, Menschenleben zu schützen. Es geht um Leben und Tod.
Unzählige Gelegenheiten zu versagen
Von außen mag die neue Offensive spät und bruchstückhaft erscheinen. Umso mehr, wo doch Zuckerberg keinen Zweifel daran lässt, dass er allein das Kommando über den Konzern hat.
Doch die Zeiten von "Move fast and break things" sind lange vorbei. Facebook, Instagram und WhatsApp haben jeweils zehnstellige Nutzerzahlen, jede Änderung betrifft mindestens Millionen von Menschen, oft in verschiedenen Ländern mit unterschiedlichen Gesetzen und Kulturen. Viele der daraus entstehenden Probleme hat vor Facebook noch nie ein Unternehmen zu bewältigen gehabt. Viele der Lösungen müssen erst in der Praxis erprobt werden, um zu sehen, woran sie scheitern. Es gibt keine Blaupausen - sondern unzählige Gelegenheiten zu versagen.
Die werden auch jetzt kommen. Holocaust-Leugner werden nicht von heute auf morgen von Facebook verschwinden, ebenso wenig Impfgegner und Verschwörungstheoretiker.
Die jahrelange Blauäugigkeit von Zuckerberg, die Überzeugung, eine neutrale Plattform bieten zu müssen, rächt sich inzwischen. Seine Netzwerke sind durchsetzt, man sieht das gerade beispielhaft an QAnon. Die Anhänger des bizarren Kults wechseln ihre zentralen Motive schnell durch und sprechen immer neue Zielgruppen an. Die absurdesten Theorien landen dabei ein wenig im Hintergrund und fallen nicht mehr so auf. Das macht QAnon aber nicht weniger gefährlich, sondern zugänglicher für ein neues Publikum.
Facebook existiert nicht abgetrennt vom Rest der Welt
Angesichts der gewaltigen Menge an täglich verbreiteten Inhalten kann man immer noch getrost davon ausgehen, dass die allermeisten Nutzerinnen und Nutzer von Facebook kein Interesse an bürgerkriegsähnlichen Zuständen am Wahlabend haben, oder daran, Bleichmittel zu trinken oder als Heilmittel gegen Covid-19 zu propagieren. Aber solche Fälle sind auch nicht so selten, dass sie ignoriert werden dürften. Und Zuckerberg hat offenbar verstanden, dass Facebooks Plattformen nicht unüberbrückbar abgetrennt vom Weltgeschehen existieren.
Warum aber ausgerechnet jetzt, drei Wochen vor der US-Wahl? Eine neue gesetzliche Regulierung in den USA und Europa ist noch zu weit weg, als dass die neuen Regeln als Besänftigungssignal zu lesen sind, wie es für Facebook durchaus typisch wäre. Ökonomische Gründe sind auch schwer auszumachen: Es hat sowohl Folgen für das Geschäftsmodell, radikale Nutzer rauszuschmeißen, als auch, sie zu dulden und damit die gemäßigten abzuschrecken.
Vielleicht sorgt sich Zuckerberg um den gesellschaftlichen Zusammenhalt in seinem Heimatland. Vielleicht will er einige seiner Kritiker besänftigen: So fordern Opferverbände und andere Institutionen schon lange ein härteres Durchgreifen gegen Holocaust-Leugner. Vielleicht will er seinen eigenen Angestellten signalisieren, dass sie in einem Unternehmen arbeiten, das gravierende gesellschaftliche Probleme nicht nur "neutral" behandelt. Vielleicht.
Der eine, alles erklärende Grund ist bislang nicht erkennbar. Aber eine Lawine fragt ja auch niemand, warum sie gerade jetzt losbricht.