

Falschmeldungen und Faktenchecks Wie ich auf Facebook zur Quelle einer Lüge wurde

Liebe Leserin, lieber Leser,
wie schnell aus einer seriösen Nachricht über den kleinen Umweg Facebook üble Desinformation werden kann, die Tausende Menschen in die Irre führt, habe ich selbst erlebt. Das kam so: Im vergangenen Jahr fragte ich mich, ob deutsche Ärzte eigentlich vermehrt Hydroxychloroquin verschrieben haben. Das angejahrte Malariamedikament wurde von so angesehenen Medizin-Ratgebern wie US-Präsident Donald J. Trump oder Brasiliens Staatschef Jair Bolsonaro gegen das Coronavirus gepriesen und von denen sogar eingenommen.
Es gab eine kurze Debatte in der Fachwelt, ob es bei Covid-19-Erkrankungen nutzen könnte (mittlerweile ist man sich da einig: nein). Zugelassen war es für die Behandlung von Covid-19 in der Europäischen Union nie. Und trotzdem wurde es von deutschen Ärzten massenhaft verschrieben, wie für den SPIEGEL aufbereitete Zahlen des Wissenschaftlichen Dienstes der AOK zeigten. Mein Artikel dazu erschien und alle möglichen Medien griffen die Recherche auf. So weit, so normal.
Doch auf Facebook kippte die Nachricht in die Lügenwelt. Auf zwei französischen Websites wurde behauptet, wir hätten berichtet, dass »Deutschland viermal weniger Todesfälle durch Covid hat als Frankreich, weil Ärzte massiv Hydroxychloroquin verschrieben haben«. Die Behauptung wurde im sozialen Netzwerk mehrere tausend mal geteilt, viel kommentiert und manifestierte sich dort zu einer Art alternativer Wahrheit. Hintergrund ist eine emotional geführte Auseinandersetzung über den französischen Mediziner Didier Raoult.

Malariamedikament Hydroxychloroquin
Foto:Kevin E. Schmidt/ dpa
Er propagierte den Einsatz des Malariamittels und fand zahlreiche Anhänger seiner Thesen zur Behandlung von Covid-19 in Frankreich. Sogar die besondere Glaubwürdigkeit des SPIEGEL wurde als Argument in der Falschmeldung herangeführt, das sich dann übersetzt ungefähr so liest: »Und der SPIEGEL ist kein Schundblatt, wie wir es aus der französischen Presse kennen. Er ist ein seriöses, investigatives Magazin und die einflussreichste und meistgelesene Wochenzeitung in Deutschland.« Was ehrenwert klingt, ändert nichts an der Tatsache, dass ich niemals behauptet habe, dass in Deutschland wegen des Einsatzes von Hydroxychloroquin weniger Menschen gestorben sind.
Vielmehr beschäftigt sich der Text mit diesem Zusammenhang gar nicht; eher versuchte ich durch Fakten zu zeigen, dass offenbar Ärzte ihren Patienten eine nicht hinreichend erprobte Therapie verordnet haben. Die französische Tageszeitung »Libération« – beauftragt von Facebook mit dem Faktencheck von bestimmten Postings in Frankreich – hat die umstrittenen Beiträge als das identifiziert, was sie sind: Erfindungen. Ihr Resumé : »Falsch, das hat das deutsche Magazin nie geschrieben.«
Doch bis die »Libération« ihren Beitrag veröffentlicht hatte, haben wahrscheinlich unzählige Menschen die falsche Behauptung monatelang lesen, teilen, kommentieren können. Mich erreichten viele Mails, in denen sinngemäß stand, was ich Ungeheuerliches aufgedeckt hätte und warum die Politik nicht schon längst reagiert habe. Traurigerweise glaube ich, dass mehr Menschen der Falschmeldung auf Facebook glauben, als der Faktencheck Leser erreicht hat. Immerhin: Einige Leser haben offenbar die Postings mit den Erfindungen bei Facebook gemeldet, so konnten die Kollegen von »Libération« zum Einsatz kommen und die Sache richtigstellen. Aber dass die Wahrheit langsamer ist als die Lüge, ist ja leider ein bekanntes Problem der Faktenchecker .
Seltsame Digitalwelt: Wikipedia und das lineare Fernsehen
In der Sprache von Reklameverkäufern ist gern vom »second screen« die Rede, wenn es um TV-Zuschauer geht. Damit ist gemeint, dass Menschen über ihr Mobiltelefon oder Tablet im Internet surfen, während sie fernsehen. Welche Websites sie offenbar wirklich aufrufen, hat eine Wikipedia-Statistik beeindruckend gezeigt. Am 12.1. startete die dritte Staffel der gut gemachten Serie »Charité« mit einer Doppelfolge. Wenig später führten die Liste der meistaufgerufenen Artikel der Wikipedia an: Charité , Charité , Eiserne Lunge , Otto Prokop , Ingeborg Rapoport , Poliomyelitis . Neben einem Eintrag zur Serie und zum Klinikum handelt es sich um das wichtigste Medizingerät der Staffel, zwei der historischen Figuren, um die sich die Folgen drehen, und um eine Erkrankung, an der ein Kind in der Handlung leidet. Ich wage vorherzusagen, dass morgen, Dienstag, folgende Einträge zu den meistgelesenen gehören werden: die Biografie des Gynäkologen Helmut Kraatz und der Beitrag über die Wismut . Um 20.15 Uhr werden nämlich zwei weitere Folgen von »Charité« ausgestrahlt. Und wer will, kann alle auch schon vorher in der ARD-Mediathek ansehen .
Fremdlinks: drei Tipps aus anderen Medien
»CRISPR Test Uses Cell Phone Camera to Detect SARS-CoV-2 « (Englisch, eine Leseminute)
Ein zuverlässiges Testergebnis auf das neuartige Coronavirus binnen 30 Minuten und ohne aufwendige Laborausrüstung, stattdessen mithilfe eines Smartphones? Forscher der University of California, Berkeley, haben da etwas entwickelt.»Zoox: Das ist also Amazons Robotaxi « (Deutsch, zwei Leseminuten)
Eine Tochterfirma von Amazon hat ein E-Fahrzeug vorgestellt, das sich mittels sechs Sensoren auf dem Dach selbst bei schlechtem Wetter autonom bewegen kann.»Snapchat Wants You to Post. They’re Willing to Pay Millions « (Englisch, 5 Leseminuten)
So werden Teenager auf einen Schlag Millionäre: Um eine neue, bei TikTok abgeguckte Funktion bekannter zu machen, vergibt Snapchat nach eigenen Angaben täglich mehr als eine Million Dollar an Nutzerinnen und Nutzer, die besonders erfolgreiche Inhalte verbreiten. Die »New York Times« ordnet das ein.
Genießen Sie den heutigen Welttag des Schneemanns (#WDOSM)!
Ihr Martin U. Müller