Forenhaftung Jeder Blogger ein Zensor?
"Publisher" zu sein, das war nie ein Zuckerschlecken: Mit einem Bein im Knast, lernte man schon als Volontär, steht der, der per Veröffentlichung Falsches oder Bedenkliches verbreitet - ob bewusst oder nicht. Verleumdungsklagen, Anzeigen wegen übler Nachrede oder Beleidigung, Geschäftschädigung oder ähnlicher Delikte gehörten von jeher zum Berufsrisiko der Verleger und Schreiber. Das hat die Regeln des Journalismus geformt, der Schreiber ist der belegbaren Tatsache verpflichtet - und muss sich zügeln, wenn es um Mutmaßungen oder bloße Behauptungen geht.
Wer professionell Informationen verbreitet, muss für deren Gehalt haften. Aber kann man ihn auch dafür haftbar machen, was seine Leser nachher darüber reden?
In der Welt von Print, TV und Radio wäre das ein aberwitziger Gedanke, nicht aber in der des Internet. Seit es Foren gibt, in denen Nutzer miteinander diskutieren, seit man - wie im Forum des Heise-Verlags - Artikel kommentieren kann, treffen auch auf den Plattformen professioneller Medien Veröffentlichung und Diskussion aufeinander.
Das alles genießt das Privileg der freien Meinungsäußerung, eingeschränkt allerdings durch die vom Straf- und Persönlichkeitsrecht gesetzten Regeln: Auch ein Webseiten-Nutzer darf in Foren und Kommentaren nicht einfach diffamieren und beleidigen, wie ihm die Schnauze gewachsen ist.
Eigentlich scheint alles klar
Im März 2007 stellte der Bundesgerichtshof (BGH) nach jahrelanger, auch vor etlichen Gerichten geführten Debatte allerdings klar, dass der Betreiber einer Webseite, auf der solches geschieht, zwar für die Diskussionsbeiträge nicht verantwortlich ist, wohl aber dafür, sie zu entfernen, sobald er davon erfährt (Az. VI ZR 101/06). Seitdem ist jeder Forenbetreiber, jeder Blogger auch ein kleiner Zensor seiner diskutierenden Leserschaft.
Der BGH bestätigte damit Urteile, wie sie zuvor auch die Landgerichte Berlin und Düsseldorf sowie die Oberlandesgerichte in Düsseldorf und München gefällt hatten. Stets ging es dabei um Foren- oder so genannte Störerhaftung, und stets betonten die Gerichte zwei Grundprinzipien: Keinem Webseitenbetreiber wurde zugemutet, jeden Diskussionsbeitrag zu kennen und dafür zu haften; wohl aber, auf Hinweis beanstandete Beiträge möglichst umgehend zu entfernen.
Doch es gibt in Deutschland kein Präzedenzfallrecht, Gerichte machen hier keine Gesetze, sie legen sie nur aus. Es gibt kaum ein Land in der Welt, in dem seit so langer Zeit so heftig um die Verantwortlichkeit von Webseiten-Betreibern für die Äußerungen Dritter gestritten wird - und die Gerichte so widersprüchliche Urteile produzieren. Eine ganz eigene Auffassung von der Verantwortlichkeit eines Webseiten- oder Forenbetreibers scheint das Landgericht Hamburg zu haben, das nun nicht zum ersten Mal mit einem ungewöhnlichen Urteil auffällt.
Verpflichtung zur Vorab-Zensur?
Verurteilt wurde in diesem Fall der Journalist und Blogger Stefan Niggemeier. Die schriftliche Urteilsbegründung liegt noch nicht vor, aber schon das mündliche Urteil hat es in sich: Niggemeier war von der Firma Callactive wegen anscheinend wirklich diffamierender Äußerungen verurteilt worden, die jemand als Kommentar unter einen mehrere Monate alten Artikel in Niggemeiers Medienblog gehängt hatte. Niggemeier entfernte diesen Kommentar ohne Aufforderung umgehend, als er ihn entdeckte. Das aber, entschied das LG Hamburg, war nicht genug: Niggemeier hafte schon für die Veröffentlichung der Diffamierung.
Damit bleibt das LG Hamburg einer seit längerem gepflegten Linie treu. Bereits im März 2007 urteilte es in einem anderen Fall ähnlich und verurteilte einen Forenbetreiber als "Störer": Darunter versteht man laut § 1004 Abs. 1 BGB jemanden, der zur Verwirklichung einer rechtswidrigen Tat kausal beigetragen hat. Nach Auffassung des LG Hamburg sei das schon dadurch gegeben, dass ein Webseitenbetreiber durch das bloße Anbieten eines freien Kommunikations-Forums die Möglichkeit für ein sogenanntes Äußerungsdelikt schaffe. Platt gesagt: Schuldig ist automatisch der, der eine Kommunikationsplattform schafft, auf der andere sich mitunter das Maul zerreißen. Störer sei er auch dann, §§ 186 StGB oder 824 BGB folgend, wenn er die dort geäußerten Meinungen weder teile noch sanktioniere.
Das Gericht sieht den gemeinen Blogger damit als verantwortlich für alles, was auf seiner Seite veröffentlicht wird. Niggemeier, schlug man diesem vor, solle sich eben die Zeit nehmen, alle eingesandten Kommentare gegenzulesen, bevor diese zur Veröffentlichung freigegeben werden. Das geht weit darüber hinaus, was der BGH im März 2007 für nötig und angemessen empfand - und es wäre als durchgesetzter Rechtsstandard in einer westlichen Demokratie einmalig. Eine generelle Vorzensur aller Meinungsäußerungen in der öffentlichen Kommunikation verbindet man gemeinhin eher mit totalitären Staaten. Zahlreiche Kommentatoren quer durch die sogenannte Blogosphäre sehen schon die Meinungsfreiheit an sich bedroht - man kann verstehen, warum.
Doch so weit sind wir noch nicht. Ein Gerichtsurteil ist ein Gerichtsurteil und nicht mehr, Niggemeier geht natürlich in Berufung. Dass es aber überhaupt zu so einem Urteil kommen kann, zeigt, dass es offensichtlich an hinreichend klar formulierten Gesetzen mangelt, die auf den gar nicht mehr so neuen Medienraum anwendbar wären.
Brauchen wir ein neues Internet-Recht?
Der Gesetzgeber hatte in der zweiten Hälfte der Neunziger schon seine liebe Mühe, adäquat darauf zu reagieren, dass über den vermeintlich einheitlichen Vertriebsweg des Internet nun ganz verschiedene Dinge geschehen sollten: Mediale Veröffentlichungen, sogenannte Teledienstleistungen sowie verschiedene Varianten von Telekommunikation. Er formulierte Gesetze, die diese Bereiche voneinander absetzten.
Dass schon damals medialer Raum, dem ebenfalls reichlich diffusen Medienrecht verpflichtet, auf "Teledienste" wie Mailinglisten oder Foren traf, hat der Gesetzgeber nie hinreichend erfasst. Die endlose Reihe von Prozessen vom berüchtigten Compuserve-Urteil (Mai 1998, aufgehoben 1999) bis zum aktuellen Urteil gegen Niggemeier legt davon Zeugnis ab.
Immerhin setzte das Berufungsurteil im Compuserve-Prozess eine Marke, die einen zunehmend pragmatischen Umgang mit dem Thema Betreiberhaftung im Internet versprach - und sich auffällig eng an international etablierten Normen bewegte: "Diensteanbieter sind für fremde Inhalte, die sie zur Nutzung bereithalten, nur dann verantwortlich, wenn sie von diesen Inhalten Kenntnis haben und es ihnen technisch möglich und zumutbar ist, deren Nutzung zu verhindern."
Eine Interpretationsfrage?
Der BGH unterstrich diese Rechtsauffassung mit dem Grundsatz "verantwortlich, sobald man Kenntnis erhält", um die Fragen rund um Foren und andere Kommunikationsplattformen besser zu erfassen. Sieht man ins Telemediengesetz, ist man versucht sich zu fragen, wie irgend ein Gericht je zu einer anderen Auffassung kommen konnte: Dort steht in Paragraf 10 klar, dass Diensteanbieter unverzüglich rechtswidrige Inhalte entfernen oder den Zugang dazu sperren müssen, sobald sie davon Kenntnis erlangt haben. Nicht vorher.
Urteile wie das von Hamburg sind möglich, weil die vielfältigen Publikations- und Kommunikationsräume des Internet durch die Gesetze nicht hinreichend beschrieben und erfasst werden - wie denn auch? Also arbeiten die Richter mit Analogien, vergleichen die Internet-Sachverhalte mit anderen, im Recht besser definierten Bereichen - und kommen so in vergleichbaren Fällen zu grundverschiedenen Urteilen, weil sie sie an unterschiedlichen Gesetzen messen. Web-affine Beobachter treibt das mitunter dazu, den Richtern erst einmal das Internet erklären zu wollen, doch darum geht es nicht: Sie finden es nur nicht ihren Gesetzbüchern wieder.
Vielleicht ist es Zeit, dass der digitale Medienraum neu definiert wird. Inzwischen gilt doch das Prinzip Mash-up: Eine Trennung von medialem, kommunikativen und Dienstleistungs-Raum imaginiert nur noch der Gesetzgeber. Tatsächlich aber sind alle Grenzen fließend: Der Teledienstanbieter eBay wird zum Telekommunikationsanbieter (der dann den entsprechenden Gesetzen verpflichtet wäre), sobald er Skype-Telefonie einbindet. Skype ist so oder so beides und mehr: Über den Dienst wird telefoniert (Telekommunikation), gechattet (Teledienst) und in Foren diskutiert. Wo nicht?
Das Hamburger Urteil deutet darauf hin, dass die beteiligten Richter gerade die Möglichkeiten freier Diskussion und öffentlicher Meinungsäußerung vornehmlich als Gefahr und nicht als Chance begreifen. Das aber ist mit Verlaub gesagt antiquiert und wird den Realitäten der digitalen Medienwelt nicht gerecht. Man kann, wenn man will, das Hamburger Urteil gegen Niggemeier als Ausreißer sehen, als Skurrilität verbuchen. Sollte man aber nicht: Rufe nach Zensur, zunehmender Kontrolle und Überwachung des Internet liegen leider im Trend.