Fünf Jahre YouTube Jede Menge Anti-Programm

Balzende, Gitarrengötter, pubertierende Suppenkasper: Fünf Jahre nach seiner Gründung ist YouTube die erfolgreichste Web-Videoplattform der Welt. Äußerlich hat sie sich kaum verändert, inhaltlich schon: Anstelle von Chaoten und Vloggern punkten bei YouTube heute der Papst und Rihanna. Oder täuscht der Eindruck?

Es gibt Formen von Erfolg, die nur noch als abstrakte Zahlen darstellbar sind: "In jeder Minute", schreiben die PR-Verantwortlichen von YouTube, "laden unsere Nutzer 20 Stunden Videomaterial hoch."

Das ist schwer zu glauben. Schließlich macht das 28.800 Stunden am Tag, 201.600 Stunden pro Woche, 846.000 Stunden im Monat, 10,5 Millionen Stunden im Jahr. Das wäre genug, um 1200 TV-Sender mit einem 24-Stunden-Programm zu beschicken. Viel zu viel, als dass sich irgendjemand all das ansehen könnte.

Wer, fragt man sich, sieht sich das alles an?

Niemand natürlich.

Die Frage ist schon im Ansatz falsch, denn darum geht es bei YouTube ja auch nicht. Web-Videoplattformen haben kein Programm, das man sich anschauen könnte, sollte oder müsste. Sie sind vielmehr das absolute Anti-Programm, der Inbegriff der On-demand-Kultur, der digitalen Wundertüte, die unermesslich viel enthält, aus der man sich herausfischt, worauf man gerade Lust hat. Für die einen sind das TV-Inhalte, für die anderen Videoblogs von Teenagern. Die einen suchen "News von unten", die anderen präsidiale Worte, wieder andere einfach Musikvideos.

Also: Niemand sieht sich das alles an, aber Millionen sehen täglich ein kleines bisschen. Aus den unterschiedlichsten Gründen.

Es gibt "Vlogs", in denen man sich wöchentlich Schminktipps abholen kann, Balzvideos hormongesteuerter Möchtegern-Gangsta, "Jackass"-Fans, die zeigen, wie man sich besonders dämlich einem Verletzungsrisiko aussetzt. Es gibt alte Herren, die ihre Biografie einer Webcam erzählen und plappernde, pubertierende Suppenkasper, die ihre dämlichen Ergüsse erst in einigen Jahren - beim Bewerbungsgespräch? - bereuen werden. Es gibt jugendliche Gitarrengötter und singende Hausfrauen, tanzende Teenies und Leute, die glauben, die Welt brauche unbedingt noch eine Shakespeare-Persiflage in 2 Minuten 52.

Ach ja, und es gibt den Papst und diverse Präsidenten, langweilige PR-Interviews mit irgendwelchen Management-Nasen und fliegende Molotow-Cocktails bei der Maidemo. Es gibt fast nichts, was es nicht gibt bei YouTube - abgesehen davon, dass die Plattform zu den saubersten des Webs zählt. Pornografie sucht man dort vergeblich (und wenn es sie gibt, wird sie schnell gelöscht). Copyright-Verletzungen sind (in Relation zur Masse der Inhalte) die Ausnahme. YouTube mag chaotisch und facettenreich sein, schrill und albern, originär, ordinär und manchmal sogar erschütternd. Gemessen an den Standards des Webs aber ist es nahezu Disney: gute Familienunterhaltung.

Begonnen hat das alles unter dem Dach des eBay-Bezahldienstes Paypal

Drei Paypal-Angestellte hatten genug davon, für einen Arbeitgeber Umsatz zu machen und beschlossen, Anfang 2005 ein Videoportal zu begründen: Chad Hurley, Steve Chen und Jawed Karim sahen die Zeit der On-demand-Videos gekommen. Die Idee selbst war alt, die ersten Portale nach dem YouTube-Muster gab es ab 1998. Nur interessierte das damals kaum jemanden: Großen Erfolg hatten die frühen Video-Websites nicht, denn der Masse der Nutzer fehlte noch die nötige Breitbandanbindung.

Mitte des Nuller-Jahre aber begann sich das zu verändern. Erste Videostars aus der viel beschworenen Internet-Community wurden international berühmt, meist gegen ihren Willen: Das Star Wars Kid und Gary Brolsma mit seinem Numa-Numa-Sitztanz machten per E-Mail-Attachment, aber auch über Videoseiten wie Metacafe oder NewGrounds die Runde.

Hurley, Chen und Karim fanden das Klasse: Jetzt, kalkulierten sie, sei die Zeit für Videoportale reif. Im Februar 2005 ging ihre Webseite YouTube online, reihte sich ein in das gute Dutzend Videoseiten mit Community-Features. In Rückschau wurde das zur Geburtsstunde einer der erfolgreichsten Webseiten überhaupt. Sie hatte nichts zu bieten, was andere nicht auch hatten. Ungewöhnlich bequem waren allein die Blog-typischen Kommentierungsfunktionen, die es Zuschauern erleichterten, zu jedem Video ihren Senf abzugeben.

Warum also wurde YouTube zum Erfolg, während der Rest der Konkurrenz nur zusehen konnte? Schwer zu sagen: Vielleicht lag es an der Welle der Sitztänzer und Lip-Synch-Videosternchen, die zu YouTubes erstem Erfolg beitrugen. Losgetreten hatte dies Gary Brolsma, dessen "Numa-Numa-Video" zu einem weltweiten Hype wurde. Ein Jahr nach Erscheinen bei NewGrounds machte das Video bei YouTube erneut die Runde - doch diesmal sahen nicht Zehntausende zu, sondern Millionen.

Was zunächst einmal Kosten generierte. YouTube wäre an diesem frühen Erfolg erstickt, wenn nicht Investoren aufmerksam geworden wären. Doch bereits Ende 2005 schoss Sequoia Capital zunächst 3,5 Millionen Dollar zu, später noch einmal acht Millionen. Damit war der Grundstock der Google-Connection gelegt, denn Sequoia hatte einst zusammen mit Kleiner Perkins Caufield & Byers auch Google finanziell angeschoben. Der Suchmaschinist schlug im Herbst 2006 zu und kaufte YouTube auf: 1,31 Milliarden Dollar ließ er sich den Videospaß damals kosten.

Für YouTube begann damit eine Phase der zunehmenden Kommerzialisierung, die sich als mühselig erweisen sollte. Der Plattform fehlten Möglichkeiten, Werbung einzubinden, was anfänglich allerdings wenig schadete: Auch die Werbewirtschaft war noch nicht so weit, Web-Videos als Markt zu entdecken. Bis heute hat YouTube an dieser Stelle Probleme, laviert nach wie vor - obwohl angeblich nur noch knapp - im defizitären Bereich.

Wie glättet man etwas, das vom Chaos lebt?

Abhilfe sollten kommerzielle Inhalte schaffen, Profi-Partner und zunehmend respektable "Kanäle". Schon bald galt es Firmen, Institutionen und Parteien als chic, bei YouTube auffindbar zu sein: TV-Sender wie CBS oder BBC leisteten sich Präsenzen, Politiker aus aller Herren Länder und sogar der Papst. Gerade der Kanal des Vatikan aber verdeutlicht bis heute das Grundproblem dieser Partner-Kanäle: Es gibt kaum jemanden, der sich dafür interessiert. Das Top-Video des Vatikankanals am 16. Februar hatte in deutscher Version 317 Aufrufe in 24 Stunden, die englische Version kam auf 1037 Abrufe - und das, obwohl jedes Aufrufen der Vatikan-Seite automatisch zu einem Videoabruf führt. Viele der Partner-Präsenzen bei YouTube sind nichts als Fremdkörper in einem Angebot, das von der Community lebt - und nur dort, wo die auch aktiv ist.

Eigentlich hat sich nichts geändert

So ist dann auch die Veränderung, die Kommerzialisierung und Professionalisierung von YouTube nur eine scheinbare. Beim Aufruf der Webseite mag YouTube heute respektabler daherkommen als 2005, als die Chaos-Clips aus der Community noch dominierten. Unter der Haube aber hat sich wenig geändert: Noch immer sind es die chaotischen Fun-Videos, die Video-Blogs, Baby-Clips und Hochzeitspannen, die den YouTube-Besucher in erster Linie interessieren.

YouTube-Mitbegründer Chad Hurley und Steven Chen: Der dritte im Bunde, Jawed Karim, hatte sich verabschiedet, bevor es Millionen regnete

YouTube-Mitbegründer Chad Hurley und Steven Chen: Der dritte im Bunde, Jawed Karim, hatte sich verabschiedet, bevor es Millionen regnete

Foto: TONY AVELAR/ AP

Und auch die Musikvideos, der einzige wirklich erfolgreiche Kommerz-Content bei YouTube, ist auf dem Rückzug. Die Branche hat darauf reagiert, dass YouTube das MTV des neuen Millenniums ist. Im Dezember 2009 schickte sie ein eigenes Streaming-Musikangebot namens Vevo auf den Weg, hinter dem zwar Sony und Universal stehen, das aber auf YouTube-Servern gehostet wird. Die Labels teilen sich die Werbeerlöse mit der Videoseite, die ihre Musikangebote zeitgleich in einem eigenen Playlist-Service namens Disco bündelte. Vevo ist hierzulande allerdings nicht nutzbar, Disco nur sehr eingeschränkt: In Europa fehlen teils die nötigen Lizenzen, in Deutschland liegt YouTube zudem mit der Gema im Clinch.

Trotzdem ist YouTubes weiterer Weg damit vorgezeichnet: Neben der chaotischen Video-Wundertüte, in der professionelle Inhalte weitgehend unbemerkt verpuffen, wird es Spin-Off-Projekte geben, zunehmend mehr Event-orientierte Live-Übertragungen, mit Partnern oder als Video-Dienstleister umgesetzte Spezialangebote. Das ist gut, weil es den Kern des Angebotes unangetastet lässt: das Anti-Programm aus der Community für die Community. Wenn man YouTube also Glück wünschen will zum ersten Mini-Jubiläum, muss das genau so aussehen: Bleib so, wie Du bist.

Auf den Folgeseiten: YouTube, wie es lacht, lebt und leidet - Video-Highlights aus fünf Jahren Anti-Programm.

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