Sascha Lobo

Protestbewegung in Frankreich Was man über die "Gelbwesten" wissen sollte

Was sind die "Gelbwesten" eigentlich? Links, rechts oder einfach nur wütend? Ein Blick auf andere Netzbewegungen kann erklären, warum die Haltung so diffus wirkt.
"Gelbwesten"-Proteste in Frankreich

"Gelbwesten"-Proteste in Frankreich

Foto: PASCAL GUYOT/ AFP

Das Erste, was man zu den "Gelbwesten" wissen muss: Sie wurden über Facebook groß . Die französische Protestbewegung ist dort entstanden und hat dort Tausende regionale und lokale Gruppen gegründet. Die Demonstrationen, die man samt gewalttätiger Folgen in den Nachrichten sieht, sind technisch betrachtet Facebook-Events.

Das spielt eine unterschätzte Rolle, weil die Facebook-Algorithmen die Funktion "Events" samt persönlicher Einladungen häufiger in den Nachrichtenstrom des Publikums bringen. Reichweite und Mobilisierbarkeit sind dadurch größer als etwa bei Demonstrationsaufrufen. Das zeugt zugleich von Facebooks Macht als politische und soziale Infrastruktur.

Das Zweite, was man zu den "Gelbwesten" wissen muss: Frankreich. Das Bild einer idealisierten Französischen Revolution beeinflusst bis heute die Öffentlichkeit, und es ist kein Zufall, dass die Ideen französischer Philosophen maßgeblich Politik und Gesellschaften des 18., 20. und 21. Jahrhunderts geprägt haben. Dahinter steckt die ständige Bereitschaft zur offensiven Auseinandersetzung mit Obrigkeiten und Strukturen, eine Haltung, die man aus deutscher Perspektive ab und an herbeisehnt.

Gleichzeitig findet öffentliche Gewalt massiver statt als in Deutschland. Zu Silvester brannten in Frankreich mehr als tausend Autos . Die französische Politik hat das kaum näher interessiert, in Deutschland dürfte bei solchen Zahlen umgehend der nationale Notstand ausgerufen werden. Ebenso zentral: Der französische Elitismus ist aggressiver, arroganter und selbstverständlicher als der deutsche, entsprechend sind die Reaktionen darauf heftiger.

Das Dritte aber, was man zu den "Gelbwesten" wissen muss: Bewegungen, die in sozialen Medien entstehen und strukturiert werden, folgen oft ähnlichen Grundmustern. Daher kann man durch die Analyse anderer Gruppen auch etwas über die "Gelbwesten" sagen. Die diffuse Graswurzel-Struktur ist Stärke und Schwäche zugleich. Die Schwäche zeigt sich in der medialen Rezeption, denn sozial-mediale Bewegungen sind zu Beginn die perfekte Projektionsfläche: Weil "Gelbwesten" so divers sind, findet man für fast jede These über sie Belege, ob im Netz oder in Straßeninterviews.

Es gibt zweifellos rechtsextreme "Gelbwesten", so viele, dass etwa schwarze Studierende sagen , sie würden sich nicht auf die Demos trauen. Es gibt ebenso zweifellos sehr linke "Gelbwesten", auch deren Äußerungen sind in regionalen Facebook-Gruppen leicht auffindbar. Die Mehrheit der "Gelbwesten" aber scheint durch kaum mehr verbunden als die Wut auf Regierung und Eliten sowie "die intime Dimension der Verzweiflung in Frankreich". Es soll sogar Drohungen gegenüber "Gelbwesten" gegeben haben, die sich als Sprecher der Bewegung darzustellen versuchten. Ebenso allergisch scheinen die "Gelbwesten" - zumindest noch - gegen Vereinnahmung durch Parteien oder Gewerkschaften zu sein. Auch scheint die Skepsis gegenüber Medien groß, und das nicht grundlos.

Denn die Berichterstattung über die "Gelbwesten" kann die gesamte Bewegung verändern. Auch das ist typisch für diffuse Netzbewegungen. Vereinfacht gesagt: Wenn in klassischen Medien der Tenor ist, die Bewegung sei als rechtsextrem einzuschätzen, dann werden in sozialen Medien und auf der Straße zunehmend Rechtsextreme angelockt, während Nicht-Rechtsextreme sich eher abgeschreckt zurückziehen. Natürlich kann die Zuschreibung auch umgekehrt funktionieren, aber in jedem Fall dienen redaktionelle Medien als Wirkhebel in die Politik. Denn die noch sehr klassisch geprägte politische Öffentlichkeit ist bisher kaum im Stande, mit der Ambivalenz und Diffusität netzbasierter Bewegungen umzugehen.

Politische Ratlosigkeit wie schon bei Occupy Wall Street

Wenn Eindeutigkeit im Innern kaum vorhanden ist - wie jetzt noch bei den "Gelbwesten" - wird sie oft von außen behauptet, denn vor allem die Politik braucht Eindeutigkeit für eine sinnvolle Reaktion. Man darf das nicht als "Verschwörung" begreifen, es zeigt vielmehr das Unvermögen der Strukturen des 20. Jahrhunderts, sich mit den neuen, sozialmedialen Bewegungen des 21. Jahrhunderts sinnvoll auseinanderzusetzen. Wenn sich aus Ratlosigkeit Energie erzeugen ließe, könnte die Regierung Macron derzeit im Alleingang die Polkappen drei Winter lang eisfrei halten. Vergleichbares war schon bei Occupy Wall Street zu beobachten, der Bewegung, die strukturell den "Gelbwesten" in der westlichen Welt bisher am nächsten kam.

Die Stärke der "Gelbwesten" aber liegt ebenso in der beschriebenen, netztypischen Diffusität. Sie eignet sich nämlich auch zur Identifikation, die Teilnehmer sehen eher die Aspekte, die sie sehen wollen, Störendes wird tendenziell ausgeblendet. Das hat auch mit dem Phänomen Filterblase zu tun: Im eigenen, sozial-medialen Umfeld findet man eher Positionen, die man selbst teilt. Deshalb können unterschiedliche Grüppchen in gelben Westen auf die Straße gehen - mit sehr verschiedenen, politischen Haltungen, die sich massiv widersprechen. Dass sich Protest am Benzinpreis entzündet, ist bereits öfter geschehen und hier folgerichtig, denn diese Maßnahme kann man aus fast allen politischen Richtungen mit jeweils unterschiedlichen Begründungen empörend finden:

  • aus linker Perspektive trifft es ärmere Arbeitnehmer, die wegen des beschämenden öffentlichen Nahverkehrs in Frankreich gezwungen sind, Auto zu fahren.
  • aus ökologischer Perspektive ist es ein Ablenkungsmanöver, wenn zugleich umweltbelastende Konzerne kaum in die Pflicht genommen werden
  • aus wirtschaftsliberaler Perspektive ist es eine die Mittelklasse störende Steuererhöhung
  • aus konservativer Perspektive wird in den Privatbesitz eingriffen und die Bewegungsfreiheit der Bürger eingeschränkt
  • und aus rechter Perspektive kollidiert die links-grüne Umweltpolitik mit den Bedürfnissen des "kleinen Mannes"

Wirklich neu an der ungewöhnlich mobilisierungsfähigen Netzbewegung der "Gelbwesten" ist ein digitales Instrument der Smartphone-Ära: Das Wutselfie, ein spontan ins Smartphone gesprochenes, ungefiltertes, emotionales Wutvideo . Die meistgesehenen Videos dieser Art haben Millionen Abrufe, in ihrer empfundenen Authentizität und Unplanbarkeit sind sie Ausdruck der "Gelbwesten"-Bewegung. Die Analyse dieser Selfie-Videos, meist in sehr lebensnahen Umgebungen geschossen, führt auf die Spur der Hintergründe.

Denn Basis der Empörung sind - trotz des Benzinpreis-Anlasses - die schon lange brodelnden sozialen Probleme in Frankreich. Die Integration muslimisch geprägter Menschen hat kaum funktioniert, teils aus rassistischen Gründen, teils durch die Entstehung und Forcierung paralleler Gesellschaftsstrukturen. Zusätzliche Migration wird deshalb auch von Leuten als Bedrohung empfunden, die sich ansonsten als links oder liberal einordnen. Die Bedrohung der öffentlichen Sicherheit durch islamistischen Terrorismus kommt dazu.

Zugleich hat eine soziale Verschiebung stattgefunden: Obwohl es dem Land ökonomisch vergleichsweise gut geht, profitieren nach eigener Empfindung immer weniger Leute davon. Die Eliten haben sich erkennbar entkoppelt von der Realität sozial schwächer gestellter Menschen. Ein oft geteiltes Symbol dafür war das Video einer Macron-Abgeordneten , die zwar Verständnis zeigte für Mindestlohn-Empfänger. Die aber auf Nachfrage nicht wusste, wie hoch der Mindestlohn eigentlich ist. Deshalb wurde die Anteilnahme als Heuchelei betrachtet, was zur Wahrnehmung der als abgehoben und lebensfern empfundenen Regierung passt.

Gelbe Westen sind die neuen Guy-Fawkes-Masken. Das beweist, dass in den letzten zehn Jahren die Organisationsformen und Instrumente der Netz-Avantgarde in die Bevölkerung gesickert sind. Das gilt auch für die ungünstigen Seiten: Wenn eine gelbe Weste und die Gründung einer Facebook-Gruppe reichen, um als Teil der Bewegung wahrgenommen zu werden und klassische Medien auch aus mangelnder Sachkenntnis bereit sind, an einzelnen Gruppen die gesamte Bewegung zu messen - dann entsteht enormes Missbrauchspotenzial.

Netzbasierte Bewegungen sind ohnehin anfällig für Manipulation, denn vergleichsweise kleine, aber sehr aktive und lautstarke Gruppen können die Wahrnehmung nach innen und außen in kurzer Zeit prägen oder umprägen. Eine Reihe sehr unterschiedlicher Akteure versucht deshalb, die Wut der "Gelbwesten" zu instrumentalisieren, Parteien, Gewerkschaften, Rechtsextreme, Linksnationalisten und natürlich solche, die im Verdacht stehen, koordinierte Propaganda zu betreiben.

Es ist bisher unklar, wer hier die Oberhand gewinnen wird, aber auch hier lässt sich anhand anderer Netzbewegungen eine Prognose treffen: Über Weihnachten entscheidet sich, ob die Bewegung größer wird, groß bleibt oder vergeht. Und im neuen Jahr wird klar, welche der unterschiedlichen, politischen Strömungen der "Gelbwesten" die historisch entscheidende sein wird.

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