Sascha Lobo

S.P.O.N. - Die Mensch-Maschine Die verlogene Wut beim Posten

Jeder weiß, wie man sich auf einer Beerdigung verhält. Aber wie reagiert man, wenn der Tod von 150 Menschen bekannt wird? Die Netzreaktionen auf den Germanwings-Absturz zeigen, dass es online kein richtiges oder falsches Trauern gibt.
Ortseingang von Barcelonnette: Der Absturz der Germanwings-Maschine war am Dienstag ein vieldiskutiertes Thema im Netz

Ortseingang von Barcelonnette: Der Absturz der Germanwings-Maschine war am Dienstag ein vieldiskutiertes Thema im Netz

Foto: Alessandro Vecchi/ dpa

Ein Unglück geschieht, viele Menschen sterben. Die digitale Öffentlichkeit, von den sozialen Medien bis zu den Nachrichtenseiten, kann nicht nicht reagieren. In Katastrophenmomenten wird deutlich, wie neu diese Netzwelt noch immer ist, dass es zwar mechanische Rituale, aber noch keine allgemein akzeptierten Instrumente der netzkollektiven Trauer gibt.

Erschütterung und Eilmeldung gehen Hand in Hand. Heinrich von Kleist schrieb "Über die allmähliche Verfertigung der Gedanken beim Reden", in den sozialen Medien lässt sich ähnliches beobachten: die allmähliche Verfertigung der Gefühle beim Posten.

Die ersten Reaktionen auf Twitter sind Ausdrücke des Schmerzes und der Fassungslosigkeit. Dann Beileidsbekundungen, "R.I.P." schreiben viele. Wie auch beim Tod von Prominenten löst bereits dieses Beileid eine Gegenreaktion aus: Beschwerden über die Verlogenheit des "R.I.P.". Ihnen folgen ihrerseits Beschwerden über die Pietätlosigkeit der Beschwerden.

Jeder soll mittrauern

Jeder weiß, wie man sich auf einer Beerdigung verhält, aber es ist noch kein Konsens vorhanden, was es bedeutet, wenn soeben der fürchterliche Tod von 150 Menschen bekannt wird. Eine Stunde nach einer solchen Nachricht wirkt ein Unternehmensbeitrag auf Facebook mit der freudigen Bekanntgabe eines neuen Produkts völlig deplatziert und bekommt entsprechend harsche Nutzerreaktionen. Der Beitrag wird gelöscht. Die Öffentlichkeit erwartet von allen mitzutrauern oder zumindest respektvoll zu schweigen. Gefälligst.

Verstörend, wie eng Trauer und Wut beieinander liegen. Zu den meistgeteilten Botschaften gehört Empörung über die "sensationslüsterne Journallie". Natürlich ist der nachrichtliche Umgang mit solchen Katastrophen unbedingt kritikwürdig. Aber gerade im Verbund mit den heftigen Reaktionen auf Privatpersonen, die vermeintlich unpassend reagieren, entsteht ein anderes Bild: Das digitale Trauerkollektiv möchte nach einem Moment der Bestürzung wütend sein.

Offenbar brauchen digitale Gemeinschaftsgefühle ein Ziel, und weil Traurigkeit keines kennt, schlägt sie leicht um in Empörung. Klicktrauer wird zur Klickwut. Es lässt sich erahnen, wie die soziale Funktion des Sündenbocks entstand.

Die Schulklasse wird hervorgehoben

Es wird bekannt, dass der Absturz beinahe zehn Minuten dauerte, und zwischen den Zeilen liest man, wie viele Leute sich selbst in einer solchen Situation vorstellen. Vielleicht die naheliegendste Form der Empathie, und zugleich merkwürdig egozentrisch. Aber auch ehrlich, denn auszusprechen, was alle, alle, alle bei einem solchen Ereignis denken oder vielmehr fühlen - das kann kaum ganz falsch sein.

Immer wieder wird hervorgehoben, dass eine Schulklasse an Bord war. Kinder, ausgelöscht, das ist einfach nicht auszuhalten. Auch, weil der Gedanke bei Eltern das Bild hervorruft, das eigene Kind säße im Flugzeug. Und, immer noch verstörend: Auch hier liegt der Zorn nah, irgendjemand wird irgendwann daran Schuld sein müssen, irgendwie.

Dann kommen die Leute, die sich öffentlich aufregen, dass deutsche Medien über die Zahl der deutschen Opfer berichten. Es sind die gleichen, die bei einem Doppelanschlag vier Tage zuvor im Jemen mit ebenfalls fast 150 Toten nicht einmal mit der Wimper gezuckt haben dürften. Ach, wo war Jemen noch gleich? Und herrscht da Krieg? Kriegstote sind Zahlen, Katastrophentote sind Schicksale, das hätte ja mich treffen können oder Tante Barbara.

Nähe ist entscheidend

Konstruierte Vergleiche stellen eine merkwürdige Reaktion auf die kollektive Trauer dar: "Sind denn 67 deutsche Tote mehr wert als andere Tote?" Nein, sind sie nicht, aber sie sind näher, und die Nähe ist entscheidend. Wie auch die Möglichkeit, direkt oder indirekt betroffen zu sein. Hier grundsätzlich Nationalismus zu unterstellen, unterschätzt ein wesentliches Instrument des Umgangs mit den Zumutungen der Welt.

Man kann sich nicht wehren gegen die konzentrischen Kreise der persönlichen Relevanz, sonst wird man wahnsinnig, denn ja, genau: Für das Coltan im Smartphone, mit dem Sie gerade diesen Artikel lesen, sind vielleicht Leute gestorben .

Soziale Medien und Nachrichten verschmelzen, nach dem Schock und der Trauer beginnt unmittelbar die Aufarbeitung. Aus dem kaum stillbaren Wunsch des Publikums nach Sofortinformation entsteht ein Wissensvakuum. Es wird von der Medienmaschinerie nicht immer angemessen gefüllt. Zentral ist dabei die Ursache der Katastrophe.

Eine Fixierung auf die Absturzursache

Ranga Yogeshwar berichtet auf Facebook, er habe mehrere Talkshow-Anfragen abgesagt , er wolle sich nicht an der Spekulation um die Absturzursache beteiligen. Der Beitrag wird fast 20.000-mal geliked, in den Kommentaren dazu wird natürlich genau das getan: spekuliert.

Die Fixierung auf die Absturzursache ist medial gesehen nicht neu, die minutenaktuelle Neuordnung der Ereignisse schon. In den sozialen Medien funktioniert die Spekulation über die Absturzursache auffallend häufig in Form der Distanzierung von Spekulationen über die Absturzursache. An einer Welle teilnehmen durch Distanzierung von der Welle, auch das ist Social Media.

Vermutungsjournalismus blüht, man versucht, sich die neue Katastrophe mit alten Vergleichskatastrophen zu erklären. Nils Minkmar twittert: "Wenn wir nur die Ursache des Unglücks kennen, sofort, machen wir es ungeschehen. Das ist magisches Denken von heute . Leider falsch."

Das trifft und trifft auch nicht: Immer wieder äußern Leute, dass ihnen bei einem unmittelbar bevorstehenden Flug mulmig sei. Sie werden mit Kommentaren beruhigt, es sei ja sehr unwahrscheinlich, dass an einem Tag zwei Flugzeuge abstürzten. Mathematisch fragwürdig argumentiert, aber hier rein rational zu kommunizieren, wäre auch irritierend. Dann wird bekannt, dass Piloten sich weigern, Airbus-Maschinen zu starten: So irrational ist es offenbar doch nicht, Angst zu haben, genau jetzt.

Sturzflug-Horror als nüchterne Tabelle

Die öffentliche Suche nach der Ursache ist eine Ersatzhandlung, der unbeholfene Ansatz, die Wiederholung der Katastrophe zu vermeiden. Ein Link wird herumgereicht, die Seite Flightaware.com trackt live das Flugverhalten von Verkehrsflugzeugen, auch der Unglücksmaschine.In der nüchternen Zahlentabelle wohnt der Horror des Sturzflugs , so sieht es also technisch aus, wenn 150 Leute wissen, dass sie in wenigen Minuten sterben werden.

Ein kaum dreiminütiges Video der Bundesregierung auf Facebook  wird Tausende Male geteilt, Angela Merkel spricht ihr Beileid aus. Vielleicht ein Drittel der Kommentare ist bestürzend bis entmutigend, Merkel-Beschimpfungen am dafür unpassendsten Ort, Herabwürdigung der Toten mit dem vermeintlichen Argument, woanders gäbe es viel mehr Tote, zeternde Kritik am Vorhaben des Besuchs der Absturzstelle.

Leute, die nicht wissen, wie Google News funktioniert, fragen, warum dort "seit zwei Tagen" der Absturz stehe. Mit der Phrase "Cui bono", dem dümmsten Nullargument, dem Arschgeweih der Verschwörungstheorie, werden die üblichen Verdächtigen bemüht und umgehend beschuldigt: USA, Israel, Echsenmenschen und Islamisten liegen ohnehin auf der Hand.

Fluglinien ändern ihre Icons

Eine Reihe von Fluglinien verändert die Icons in sozialen Medien: schwarzweiß statt farbig, Trauerlogos, visualisierte Branchentrauer, seltsame und doch so nochvollziehbare Rituale des netzöffentlichen Umgangs mit einer solchen Katastrophe. Das Auswärtige Amt richtet eine Hotline ein, die Telefonnummer wird wieder und wieder weitergereicht als Zeichen der trauernden Solidarität. Aber mehr noch, um sich nützlich zu machen. Um zu helfen, irgendwie, wenigstens ein kleines bisschen. Symbolisch.

Google hat eine schwarze Schleife auf der Startseite. Sie ist nicht verlinkt, aber beim Überfahren mit der Maus zeigt sich der Text "Zum Gedenken an die Passagiere des Flugzeugabsturzes". Nur ein Halbsatz, aber außerordentlich unbeholfen formuliert: Niemand ist Passagier eines Absturzes, und zählt die Besatzung nicht? Aber irgendwie zählt die Geste, das Symbol.

Und mit einem Schlag wird klar: Sieht man von den Witwenschüttlern ab, die schon im 20. Jahrhundert den ethischen Bodensatz der Öffentlichkeit darstellten - dann gibt es kein richtiges oder falsches Trauern im Netz. Jede zur Schau gestellte Erschütterung, jeder schlechte Scherz, jeder ernsthafte Versuch, sich nachrichtlich der Katastrophe zu nähern, hat seine Berechtigung, ebenso wie die Reaktionen darauf. Es ist eine große, digitale Suchbewegung der Verzweiflung, so unbeholfen, wie der Umgang mit dem Tod eben ist. "Es gibt keine Gerechtigkeit, nur den TOD ". Es ist alles Bewältigung.

Anmerkungen: Dieser Text versteht sich selbst als Teil der Suchbewegung und ist deshalb kaum zusammenzufassen. Das sonst üblicher tl;dr ist daher hier unpassend. Der letzte Link führt zu einem Terry-Pratchett-Nachruf, den Sascha Lobos Ehefrau geschrieben hat.

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