Google Street View Paradies der Gaffer und Spanner
"Booty Check" wird die Straßenszene genannt. Boot bedeutet Stiefel. Booty kann Beutestück heißen, umgangssprachlich aber ebenso Hintern. Dem Augenschein nach ist die zweite Übersetzung passender: San Franciso, Larkin Street, ein Gehsteig. Eine Frau beugt sich vornüber, um ihre Schuhe zu binden - oder ihre Stiefel zu überprüfen. Gleich neben ihr drehen sich zwei junge Männer im Vorbeigehen um und gucken. Ob sie sich für die Dame, deren Schuhe oder Hintern interessieren (oder für irgendetwas ganz anderes), weiß niemand. Für das Blog "StreetViewVoyeur" jedoch steht fest: Die machen einen Booty Check. Ein Klick, ein Lacher, weiter.
Seit der Suchmaschinengigant Google seinen Online-Kartendienst Maps um die Funktion Street View erweitert hat, gibt es einen neuen Sport im Internet: Nutzer fahnden in den 360-Grad-Ansichten unzähliger Straßenzüge nach Lustigem, Kuriosem - und natürlich nach Anzüglichem.
"Die Street-View-Erweiterung lässt eine ganz neue Form von Google-Map-Sightseeing entstehen", schreibt Mike Pegg in seinem Blog "Google Maps Mania" . Das ist unzweifelhaft richtig, wenngleich die Sights (Sehenswürdigkeiten) weniger über die abgebildeten Städte aussagen, für die der neue Fotodienst von Google bislang verfügbar ist, nämlich New York, Miami, San Francisco Bay Area, Las Vegas and Denver.
Über die Zusammensetzung des Publikums und dessen Vorlieben erfährt man hingegen einiges: in Blogs wie StreetViewr.com , GoogleSightseeing.com oder Street View Fun .
Das Problem dabei: Google entblößt Ahnungslose. Denn auf den Straßenfotos sind auch sonnenbadende Bikini-Mädchen, Nasenbohrer und Pornokino-Besucher zu sehen - allesamt ahnungslos abgelichtet. Anfang Juni entrüstete sich Mary Kalin-Casey aus dem kalifornischen Oakland in der "New York Times", weil man auf Googles Street View sogar ihren Kater Monty hinter dem Wohnzimmerfenster im zweiten Stock erkennen kann.
Beutestücke zu Web-Kurzgeschichten - ganz ohne Kontext
Unzähligen Blogs und Webseiten ist's egal. Sie tauschen und verlinken seit Wochen immer mehr Beutestücke. Und so werden aus oft zweideutigen, zufällig aufgenommen Straßenszenen mithilfe süffisant-suggestiver Kommentare kleine Web-Kurzgeschichten: Die beiden Männer aus der Larkin Street werden als Spanner durchs Web gereicht. Ein Jogger am Spreckels Lake in San Francisco dehnt sich , ein Paar Meter hinter einer anderen Joggerin stehend. "Ach was, der gafft ihr auf den Hintern", schreibt der Nutzer "Alex" auf "GoogleSightseeing ". Ein Lieferwagen mit dem Logo des Computerherstellers Hewlett Packard ("Authorized Sales & Service", auch die Telefonnummer ist klar zu erkennen) parkt in der Ofarrel Street, Downtown San Francisco, vor einem Etablissement mit der Aufschrift "Adult Sex Entertainment" - im Web wird daraus die schlüpfrige Geschichte von der unangebrachten Mittagspause der Servicetechniker gedichtet.
Wo die Fülle verfügbarer Fotografie Information vortäuscht, ersetzt der Augenschein das Wissen, eine knackige Hypothese den Zusammenhang. Und das könnte erst der Anfang sein.
"Hilf 'Wired News' dabei, die besten versehentlichen Stadt-Schnappschüsse zu erfassen", werden die Leser des Blogs "Threat Level" aufgefordert . Er gehört zum Online-Angebot der Zeitschrift "Wired". Dort können die Nutzer wie auf vielen anderen Street-View-Sammelseiten nicht nur eigene Fundstücke einschicken (ein Link zur entsprechenden Seite bei Google Maps genügt), sondern auch Plus- oder Minuspunkte für die Einträge anderer verteilen.
Öffentlich Privates wird global multipliziert
Noch sind wenige Städte von Googles Panoramafoto-Wagen erfasst worden. Noch bedient sich erst eine Minderheit der Netznutzer des Dienstes. Was aber, wenn sich mit dem Wachstum des Dienstes auch die Probleme auswachsen?
Den Sorgen von Nutzern, die Verletzungen ihrer (oder einer fremden) Privatsphäre befürchten, entspricht Google mit der Möglichkeit, anstößige Schnappschüsse zu melden. Wenigstens in Einzelfällen ist bekannt, dass diese auch entfernt wurden: Das Bild einer Frau, die beim Einsteigen in einen Pickup ihre Unterhose entblößte, sperrten die Verantwortlichen - nachdem es die Runde durch die Blogs gemacht hatte.
Googles Kamerawagen selbst werden zum Gegenstand der Beutestück-Jäger. Ängstlich fragen manche schon: Was, wenn es statt Google die Geheimdienste wären?
Aber was ist mit weniger eindeutigen Fällen? Wer auf Google Maps den New Yorker Stadtteil Manhatten sucht und mit der 360-Grad-Fotofunktion zum Beispiel dem Park Drive durch den nördlichen Central Park folgt, gleitet virtuell an Heerscharen von Joggern, Walkern und Rasensitzern vorbei. Beinahe unmöglich, da keine textilarmen, unfreiwillig komischen oder wenigstens missverständlichen Schnappschüsse zu finden - aus denen sich eine Geschichte fabulieren ließe.
Schließlich ist Street View nicht das Ergebnis klassischer Straßenfotografie ("Schnappschuss, bitte lächeln, vielen Dank!"), sondern so etwas wie klammheimlich eingefrorenes öffentliches Leben: Die eingesetzten Fahrzeuge - zum Teil vom Drittanbieter Immersive Media betrieben - brauchen nur einen Fahrer. Das Fotografieren übernimmt eine vollautomatische 360-Grad-Kamera auf dem Dach. Das Gerät fotografiert mit elf Linsen bis zu 30 Mal in der Minute.
Es war wohl unvermeidlich, dass auch diese Kamerawagen selbst zum Gegenstand des Sammeleifers würden: Die diversen Street-View-Blogger tauschen mit Genuss Fundstücke aus, auf denen sich ein Lieferwagen mit Kameraausrüstung auf dem Dach in Verkehrsspiegeln oder Schaufenstern spiegelt.
Furcht vor CIA, NSA und Live-Video
Ob Bilddatensammler in Googles Auftrag je durch europäische Städte rollen werden, ist zumindest ungewiss. In Europa könnte die bisherige Praxis gar illegal sein, schreibt der Anwalt, IT-Rechtler und Blogger Struan Robertson in der Londoner Zeitung "Times". Zwar seien die Datenschutz-Gesetze in den einzelnen EU-Mitgliedsländern verschieden, doch gebe es in den meisten einen ähnlichen Rechtsanspruch für die Bürger. Diese könnten von einem Anbieter verlangen, dass er die Veröffentlichung von Fotos verhindere, wenn ihnen aus dieser Nachteile erwachsen könnten. Oft sei auch für kommerzielle Aufnahmen von Personen im öffentlichen Raum eine Zustimmung notwendig. "Selbst ein Lautsprecher auf dem Dach der Kamerawagen, der tönt 'Hallo Leute, hier ist Google, bitte alle lächeln!', könnte da nicht ausreichen", schreibt Robertson.
Nicht, dass Google der einzige Akteur wäre, der Ahnungslose ablichtet. Street View sei seiner Meinung nach so etwas wie die unüberschaubare Zahl der Überwachungskameras, schreibt Robertson. Nur dass Videoüberwachung durch Schilder kenntlich gemacht werden müsse.
Im populären "BoingBoing"-Blog wurde dieser Gedanke im Laufe der Woche weitergesponnen : "Google Street View - wäre es mehr oder weniger böse, wenn es von der CIA oder der National Security Agency (NSA) käme?", fragte die Autorin und Netzaktivistin Xeni Jardin.
John Battelle, Journalismusdozent an der University of California in Berkeley und Autor des Google-Buchs "The Search", fragte in seinem "Searchblog": Wie lange noch, bis daraus Live-Video wird? "Denkt mal kurz darüber nach, ich bin mir sicher, die NSA und die CIA tun das auch." Kameras seien nichts neues, Karten auch nicht, nicht einmal das Internet oder Google oder Microsoft seien neu, räsoniert Jardin: "Warum fühlt sich das hier dann trotzdem für viele so gruselig an?"