Sascha Lobo

Homeoffice, Schulen, Impfungen Corona-Politik des geringsten Widerstands

Sascha Lobo
Eine Kolumne von Sascha Lobo
In den Corona-Maßnahmen steckt ein Muster: je geringer die Gegenwehr, desto größer die Zumutungen. Arbeitnehmer, Eltern und Lehrpersonal müssen die Halbherzigkeit der Politik und die verbockte Digitalisierung ausbaden.
Halbherzige Nullbockwurstigkeit: Hausaufgabenübergabe in einer Grundschule in Dinslaken

Halbherzige Nullbockwurstigkeit: Hausaufgabenübergabe in einer Grundschule in Dinslaken

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SASCHA STEINBACH/EPA-EFE/Shutterstock

Ich fühle mich von den Regierungen dieses Landes verdackelt. Da ist ein Muster in der Corona-Politik, und es macht mich wütend. Deutschland ist zum Land der selbstgefälligen Halbherzigkeit geworden, und in der Pandemie bekommt es dafür immer wieder die Quittung. Im Frühjahr hat man sich noch regelrecht gefeiert für die wirksame Corona-Politik und sich deshalb ein paar Monate später erlaubt, nichts ernst zu nehmen, außer sich selbst – speziell die föderale Ministerpräsidentenrunde. Wie kann es sein, dass der sächsische Ministerpräsident Michael Kretschmer Anfang Januar 2021 ernsthaft sagen kann, ihm sei »die ganze Dramatik der Lage erst durch den Besuch mehrerer Krankenhäuser am 11. Dezember « klar geworden? Wo hat Kretschmer das Jahr 2020 verbracht? Offensichtlich an einem Ort ohne Handyempfang, was das Gebiet auf wenige Hunderttausend Quadratkilometer in Deutschland eingrenzt.

Neben der Halbherzigkeit lässt sich hinter vielen Corona-Maßnahmen zudem eine kleine, verborgene und verbogene Ideologie erkennen: je geringer die Gegenwehr, umso größer die Zumutungen. Dieses Muster dürfte zwar nicht immer absichtsvoll angewendet werden, aber es ist altbekannt: die Politik des geringsten Widerstands. Wer Druck ausüben kann, wer die kraftvollste Stimme nah bei der Politik platzieren kann, wird gehört, alle anderen sind alle anderen. Und wo aus Gründen fehlenden Einblicks wenig Gegenwehr erwartet wird, lässt sich ordentlich reinkloppen. Wissenschaftliche Erkenntnis bildet glücklicherweise die Grundlage der Corona-Politik. Aber die politische Umsetzung gleicht viel zu oft einer Lobbyschlacht. Samt Politgehabe.

Deshalb landen zwar nach über zehn Monaten Corona nun erstmals verbindliche Regeln zum Homeoffice im Maßnahmenpaket. Dagegen hatten bisher verschiedene Arbeitgeber- und Unternehmensvertretungen gewettert, ebenso wie Gewerkschaftsvertreter. Mit dem Erfolg, dass viele Büros noch ein Jahr nach den ersten Corona-Fällen in Deutschland voll sind wie Oktoberfestbesucher. In den neuen Lockdown-Beschlüssen aber ist die Pflicht zum Homeoffice so formuliert, dass sie wieder auf die Ideologie der geringsten Gegenwehr einzahlt. Arbeitgeber müssen zwar »dort, wo es möglich ist, den Beschäftigten das Arbeiten im Homeoffice ermöglichen […], sofern die Tätigkeiten es zulassen.« Aber der Teufel steckt im Ermöglichungsdetail, und das wird im Nachsatz klar. Der lautet: »Die Bundeskanzlerin und die Regierungschefinnen und Regierungschefs der Länder bitten die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, das Angebot zu nutzen.« Das ist keine Pflicht zum Homeoffice, wie sie in vielen anderen Ländern faktisch besteht, das ist ein frommer Homeoffice-Wunsch.

Bundeskanzlerinnenbitten sind rechtlich nicht bindend

Denn es bedeutet nichts anderes als: Diejenigen Arbeitnehmenden, die sich trauen, Homeoffice einzufordern, dürfen es machen – wo es möglich ist. Was natürlich letztlich der Arbeitgeber entscheidet. Wer kann im Zweifel schon sagen, wie freiwillig genau solche Entscheidungen sind? Gerade, wenn so viele Unternehmen durch Corona vor wirtschaftlichen Schwierigkeiten stehen. Möchte man da in der Montagsrunde wirklich die erste und vielleicht einzige Person sein, die mit der Bundeskanzlerin darauf besteht, das Angebot zu nutzen? Völlig abgesehen davon, dass auch nicht alle Arbeitnehmenden dieses Landes die pandemische Vernunft mit übergroßen Löffeln reingeschaufelt haben mögen. Was passiert mit den Bockigen, die trotzig weiter ins Büro gehen? Nichts, denn Bundeskanzlerinnenbitten sind rechtlich nicht bindend.

Ein verstörend passendes Symbol dieser Politik ist ein Satz zur Bildungs- und Erziehungssituation in der aktuellen Beschlussfassung: »Bund und Länder danken ausdrücklich Lehrerinnen und Lehrern, Erzieherinnen und Erziehern und dem pädagogischen Personal in Schulen und in der Kindertagesbetreuung für die Bewältigung der großen Herausforderungen in der Pandemie.«

Warum steht dort nichts von den Eltern? Warum werden deren kräftezehrenden, monatelangen Leistungen wie Homeschooling ausgeblendet und bleiben an einer eigentlich fabelhaft passenden Stelle komplett unbedankt? Die bittere Antwort heißt: Weil sie einerseits für selbstverständlich gehalten werden und weil sich andererseits die meisten Eltern nur indirekt wehren können, nämlich durch Wahlen. Die Gegenprobe beweist das. Noch während die Bundeskanzlerin samt Söder und Müller die Schulen und Kitas bis zum 14. Februar zusperren und die große Einigkeit der Beschlüsse loben, kommt eine Eilmeldung aus Stuttgart. Ministerpräsident Kretschmann möchte Kitas und Grundschulen am 1. Februar öffnen . In Baden-Württemberg wird am 14. März gewählt. Wie soll hier eigentlich nicht der Eindruck schreiender Halbherzigkeit entstehen?

Verlässliches Rezept für höchste Halbherzigkeit

Aus den erklärtermaßen sehr emotionalen, langen Beratungen berichtet die »Tagesschau«, dass Kanzlerin Merkel sich in Sachen Schulen und Kitas in eine Sackgasse manövriert habe. Viel, viel später findet sich eine Lösung, die mit dem Satz beschrieben wird: »Für Merkel ist der Kompromiss trotzdem eine Chance zu Gesichtswahrung. « Mich empört das, weil ich in derart tief greifenden Krisensituationen erwarte, dass ein Faktor wie »Gesichtswahrung« exakt gar keine Rolle spielt. Null. Bei niemandem. Für mich hört sich das an, als sei hier nicht die sinnvollste oder beste Lösung gefunden worden, sondern eine, die auf das politische Image Rücksicht nimmt. Was mir wie ein verlässliches Rezept für höchste Halbherzigkeit erscheint, wiederum auf dem Rücken derjenigen, deren Möglichkeiten zur Gegenwehr begrenzt sind.

Das ist umso schlimmer, als gerade die Bundes- und Landesregierungen der letzten fünfzehn Jahre unter Merkel die Digitalisierung der Bildung so unglaublich verbockt haben wie kaum ein anderes Thema. Was sich jetzt natürlich bitter rächt, in Merkels halbherziger Nullbockwurstigkeit der Digitalisierung liegt ein wesentlicher Grund für das gegenwärtige digitale Schuldebakel. Die verschiedenen digitalen Lernplattformen für den Fernunterricht sind so oft überlastet, dass man sie kaum mehr ernst nehmen kann. Das ist 2021 ein handhabbares Problem beziehungsweise wäre eines – wenn nicht föderale Zuständigkeiten, finanzielle Mittel und Know-how ein unentwirrbares Knäuel wären. Übrigens nicht nur, was die Schulen betrifft. Das hauptsächlich von der EU-Kommission finanzierte Studienzentrum für europäische Politik hat Ende 2019 eine Rangliste  veröffentlicht, was die Bereitschaft für das digitale lebenslange Lernen angeht. Deutschland landet auf Platz 27. Von 27. Eigentlich ist das schon nicht mehr Halbherzigkeit, da ist gar kein Herz mehr erkennbar. Was wiederum perfekt zur Tatsache passt, dass derzeit in Berlin ein Pilotprojekt läuft . Bitte festhalten, es geht darum, dass Lehrkräfte eine eigene, dienstliche Mailadresse bekommen. Ja, wirklich. Das ist das digitale Niveau staatlicher Bildungseinrichtungen Anfang 2021.

Und es ist ein weiteres Symptom der Halbherzigkeit, mit der die Bundesregierung ihre Corona-Politik gestaltet. Bis hin zu den Impfungen. Es gibt ja einen Grund, weshalb etwa Israel Impfweltmeister ist. Das Land hat Biontech und Pfizer im Gegenzug für eine frühe, umfassende Impfstofflieferung nicht nur Zugang zu umfassenden anonymisierten Daten versprochen. Sondern auch das Vielfache des Preises bezahlt , den Deutschland und die EU zahlen wollten. Angesichts der Kosten für auch nur einen einzigen Tag Lockdown – wie kann man auf die Idee kommen, genau an dieser Stelle zu sparen? Wie kann man hier EU-Befindlichkeiten von Gesichtswahrung bis Geiz berücksichtigen?

Die Antwort ist, was die deutschen Regierungen angeht, immer wieder die gleiche: diese elende Halbherzigkeit, bestehend aus wurstigem Föderalismus, lähmender Bürokratie sowie einer Historie des selbstzufriedenen Modernisierungsunwillens. Die inzwischen eine Krone trägt, nämlich die bizarre Unfähigkeit oder der Unwillen, Geld auszugeben. Im Sommer schien für einen kurzen Moment die Halbherzigkeit im Griff, Stichwort »Bazooka«. Jetzt erfahren wir die Zahlen über das Pandemiejahr 2020: Von den 24 Milliarden Euro Unternehmenshilfen sind nur 4,5 Milliarden abgeflossen. Von 71 Milliarden Investitionen blieben 21 Milliarden übrig. Der Arbeitsmarkt wurde mit neun Milliarden Euro weniger unterstützt, als zur Verfügung standen. Insgesamt gab die Bundesregierung beinahe sagenhafte 90 Milliarden Euro weniger aus als geplant. Im Corona-Jahr, wo von der Erhöhung der lächerlichen Hilfen für Soloselbstständige über kostenlose FFP2-Masken bis zur Ausrüstung der Schulen mit verdammten Luftfiltern jede Menge Optionen bestanden hätten. Aber dazu hätte man vermutlich mehr als ein halbes Herz gebraucht.

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