Internet-Vordenker Tim O'Reilly "Wir betreten eine neue Welt"

Tim O'Reilly ist der Guru des "Web 2.0". Doch er kann das Schlagwort, das zum Inbegriff des neuen Internetbooms wurde, selbst nicht mehr hören. Im Interview mit SPIEGEL ONLINE erklärt er, warum er einem Außerirdischen eher Google als YouTube zeigen würde.

SPIEGEL ONLINE: Vor gut zwei Jahren haben sie den Begriff "Web 2.0" erfunden - haben Sie inzwischen genug davon?

Tim O'Reilly: Ja!

SPIEGEL ONLINE: Warum das?

O'Reilly: Naja - ja und nein. Es ist ein tolles Gefühl, etwas Neues am Horizont zu sehen, und dann Andere dazu zu bringen, das auch zu sehen. Nicht ich habe übrigens den Begriff "Web 2.0" erfunden - das war einer meiner Mitarbeiter, der nach einem neuen Titel für eine Konferenz suchte. Er hat den Namen erfunden und der ist dann hängengeblieben - als Name für Ideen, die ich seit Jahren predige.

YouTube-Star lonelygirl15: "Das ist nicht unsere Zivilisation hier, das hier ist nur etwas, womit wir gerade ein bisschen herumspielen"

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SPIEGEL ONLINE: Und jetzt geht Ihnen der Begriff langsam auf die Nerven?

O'Reilly: Letzte Woche war ich mit Richard Branson und seinen Leuten auf den Virgin Islands, auf dem Weg dorthin habe ich mich mit der Technologie-Planungsgruppe von British Petroleum getroffen, eben habe ich eine Einladung vom CEO von IBM bekommen - und das ist toll! Der Nachteil ist: Irgendwann hat man keine Lust mehr, sich selbst reden zu hören. Es wäre schöner, wieder von anderen Leuten zu lernen, als immer wieder das Gleiche zu sagen.

SPIEGEL ONLINE: Inzwischen wird "Web 2.0" vor allem von Leuten im Munde geführt, die von der Idee fasziniert sind, an der unbezahlten Arbeit Anderer zu verdienen…

O'Reilly: Das ist einer der Gründe, die mich bei der Stange halten: Viele Leute versuchen, den Begriff zu verfälschen und ihn in eine Neuauflage der Dotcom-Blase zu verwandeln. Ich sage immer wieder: "Nein, hier passiert etwas wirklich Wichtiges!" Viele der Gedanken, die in meiner Fassung des Begriffs "Web 2.0" stecken, sind ziemlich kompliziert. Es ist schön, dass sie sich trotzdem langsam durchsetzen. Dass die Leute verstehen: "Oh, es geht nicht nur um MashUps, es geht um die Idee, kollektive Intelligenz nutzbar zu machen." Die Leute fangen an, das zu begreifen. Von den PR-Typen und den Schaumschlägern versuche ich mich einfach fernzuhalten.

SPIEGEL ONLINE: Trotzdem sind viele Leute begeistert von der Vorstellung, Leute ohne Bezahlung für sich arbeiten zu lassen. Ist das nicht ein ethisches Problem? Die Musik-Datenbank Gracenote beispielsweise basiert auf Daten, die ursprünglich einmal Freiwillige eingegeben haben. Jetzt ist ein Geschäftsmodell daraus geworden, es verdient jemand Geld daran.

O'Reilly: Linux ist ein Betriebssystem, das von seinen Nutzern aufgebaut wurde und trotzdem verdienen Leute Geld damit. Es muss nur einen angemessenen Austausch geben - dabei muss es nicht unbedingt um Geld gehen. Open-Source-Software-Communities erzeugen handfeste Werte - nicht nur durch Firmen wie Red Hat, die Linux-Distributionen für Anwender verkaufen, sondern auch durch den Erfolg von Unternehmen wie Google, Yahoo oder Amazon, die alle mit Linux-Software arbeiten. Sind die Programmierer, die das möglich gemacht haben, deshalb sauer? Nein. Was bekommen sie dabei heraus? Einen guten Ruf, bessere Jobs - wenn sie ein Open-Source-Programmierer sind, besteht ihr Lebenslauf aus den Arbeitsproben, die sie vorweisen können!

SPIEGEL ONLINE: Für die vielen Gracenote-Helfer gilt das aber nicht ...

O'Reilly: Die Menschen verstehen auch, dass man nicht unbedingt bezahlt werden muss, wenn man einen kleinen Beitrag zu einem kollektiven Werk leistet. Wenn ich eine CD ins Laufwerk schiebe und sehe, dass da noch nicht eingeordnete Stücke drauf sind, dann stelle ich auch die Informationen bei Gracenote ein! Ich habe kein Problem damit, dass die damit Geld verdienen - schließlich stellen sie einen wertvollen Service zur Verfügung.

SPIEGEL ONLINE: Ein anderer Modebegriff ist der von der "Weisheit der Vielen". Gibt es nicht das Risiko, dass große Gruppen von Menschen sich dümmer verhalten, nicht klüger als Einzelpersonen?

O'Reilly: Das hängt von der Technik ab, die man benutzt. Wenn es ein einfacher Abstimmungsalgorithmus ist - dann ja. Seiten wie die Nachrichten-Community digg.com, in der die Nutzer Nachrichten durch einen Klick weiter nach oben befördern können, können leicht in Geiselhaft genommen werden. Aber auch Google hat einen "Weisheit der Vielen"-Aspekt - weil das System die Information nutzt, wie viele Webseiten auf eine bestimmte Seite verlinken. Gleichzeitig hat man dort aber auch noch Leute, die Urteile darüber abgeben, wie gut die Suchergebnisse sind. Es gibt da ein interessantes Beispiel: In Alaska gibt es den Glacier Bay National Park. Bei Google dachte man: "Wir bekommen da das falsche Suchergebnis, die Leute suchen nach Glacier Bay, und wir geben ihnen die Seite eines Unternehmens, das Toiletten herstellt!" Sie haben sich das genau angesehen und festgestellt, dass tatsächlich mehr Menschen nach dem Toilettenhersteller als nach dem Nationalpark suchten! Das menschliche Urteil war falsch, das System war schlauer.

SPIEGEL ONLINE: Aber sind große Menschenmassen nicht unkontrollierbar, vielleicht sogar gefährlich?

O'Reilly: Spam ist ein gutes Beispiel für den Wahnsinn der Vielen. Aber Spam kann auch mit Hilfe der Weisheit der Vielen bekämpft werden - Einzelne können Spam identifizieren, diese Informationen werden gesammelt. Das ist eine sehr mächtige Anti-Spam-Technik. Wir betreten eine neue Welt, in der es nicht mehr nur um das Äußern von Meinungen im Netz geht - es geht um verteilte Datenerhebung und Echtzeit-Intelligenz.

SPIEGEL ONLINE: Ein Gedankenexperiment zum Thema Weisheit der Vielen: Wenn Sie einen Gast aus dem All hätten, einen Außerirdischen, dem Sie die Kultur der Menschheit vorführen möchten. Würden Sie ihm die zehn beliebtesten Videos auf YouTube zeigen? Oder eine Zufallsstichprobe von MySpace-Profilseiten?

O'Reilly: Nein. Ein amerikanischer Komiker hat diese Frage so beantwortet: "Das ist nicht unsere Zivilisation hier, das hier ist nur etwas, womit wir gerade ein bisschen herumspielen. Kommt in zehn Jahren wieder und wir zeigen Euch unsere echte Zivilisation." Entweder das, oder wir würden auf sie schießen und sie würden sich umdrehen und in ihrem Raumschiff abhauen. Aber im Ernst: Ich würde ihnen Google zeigen und sagen: "So weit sind wir bisher gekommen auf dem Weg zu künstlicher Intelligenz, wie findet ihr das?" Ich würde ihnen ein paar unserer größten Kunstwerke zeigen. Ich würde ihnen ein paar von den Dingen zeigen, die wir falsch machen und fragen: "Habt ihr einen Vorschlag, wie wir das in Ordnung bringen könnten?"

Die Fragen stellte Christian Stöcker


Lesen Sie morgen im zweiten Teil des Interviews: Wie man verhindert, dass eine Netz-Community schlecht wird, warum Wikipedia doch nicht böse ist - und wie 3-D-Drucker unser aller Leben verändern werden.

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