Interview mit Comiczeichner Jamiri "So was wie ein Original gibt's nicht mehr"

Es ist Zeit, nach Kassel zu fahren. Am Freitag eröffnet in der Caricatura, Galerie für komische Kunst, die Ausstellung "Richterskala" des Comic-Künstlers Jamiri alias Jan Michael Richter. Der Zeichner über Tipp-Ex, Kurzsichtigkeit und wenn sich Déjà vu mit "Nanu?" mischt.

SPIEGEL ONLINE:

Herr Richter, was sind Sie eigentlich für eine Type?

Jamiri: Ich selbst würde mich als nachdenklichen, kurzsichtigen jungen Mann charakterisieren. Also als jemanden, der mit diesem Alter Ego, das ich da zu Papier bringe, eher wenig zu tun hat.

SPIEGEL ONLINE: Tatsächlich: Gemessen an den oft an Exhibitionismus grenzenden, zumindest aber sehr extrovertiert, intim gefärbten Themen ihrer Comics wirken sie sehr schüchtern.

Jamiri: Das ist wahr. Da fällt mir auch das Treffen mit Lesern manchmal nicht leicht, weil ich weiß, wie öffentlich ich mich durch die Comics schon gemacht habe. Manchmal kann ich selbst nicht mehr auseinander halten, was fiktional ist in meinen Geschichten, und was wirklich erlebt. Die Grenzen fangen wirklich an zu fließen, auch für mich.

SPIEGEL ONLINE: Und für Ihre Leser?

Jamiri: Die halten oft das Erfundene für wahr und das Wahre für erfunden. Eigentlich kann mir also gar nichts passieren.

SPIEGEL ONLINE: In Ihren Comics geht es neben Alltagsanekdoten und recht intimen Sketchen aus der privaten Lebenswelt oft auch um Technik…

Jamiri: Ja, ich wurde früher oft in der Computerecke geparkt, aber eigentlich war das ein Irrtum. Das lag vor allem daran, dass ich jahrelang für "Online Today" gearbeitet habe, wo ich thematisch gehalten war, mich damit auseinander zu setzen.

SPIEGEL ONLINE: Aber Ihre Interessen gehen weiter?

Jamiri: Ja. Es hat sich jetzt lustigerweise ergeben, dass ich auch Comics für die Zeitschrift der Mathematiker-Vereinigung zeichnen darf. Die haben mich tatsächlich darum gebeten.

SPIEGEL ONLINE: Und jetzt wollen Sie Ihre Fans davon überzeugen, nach Kassel zu fahren, weil sich das lohne. Das ist ungewöhnlich.

Jamiri: Für mich ist das wichtig. Die Caricatura in Kassel ist für einen Comiczeichner so etwas wie ein Ritterschlag. Bisher haben dort nur recht reinrassige Polit-Karikaturisten ausgestellt. Die Ausstellungsmacher haben lange überlegt, ob sie jetzt wirklich so jemanden wie mich auf ihren kleinen Olymp heben wollen. Weil ja der Deutsche an sich, das Feuilleton sowieso und auch die Ausstellungsmacher immer noch ihre Probleme mit dem Medium Comic haben.

SPIEGEL ONLINE: Als da wären?

Jamiri: Es ist einfach so viel Trash unterwegs in diesem Genre, dass es Comics im Allgemeinen schwer haben, dieses Müll-Image los zu werden. Ich frage mich da allerdings immer, warum dann mit Literatur nicht ähnlich verfahren wird. Da wird ja bekanntlich auch vornehmlich Mist produziert.

SPIEGEL ONLINE: Und was darf man nun in Kassel erwarten?

Jamiri: Mehr oder weniger mein vollständiges Oeuvre. Einiges habe ich im Lauf der Jahre natürlich verkauft oder verschenkt, aber das, was noch in den Mappen war, hängt jetzt an den Wänden.

SPIEGEL ONLINE: Wie muss man sich das vorstellen? Sind das viele kleine Bildchen, muss man vielleicht eine Lupe mitbringen?

Jamiri: Nein. Das reicht von A3-Vollformaten aus den Gründertagen, mit Tipp-Ex-Flecken und aufgeklebten Korrekturen, wo man dem Künstler also richtig in die Karten gucken kann, bis zu perfekten Ausdrucken der allerneuesten Sachen, die völlig papierfrei nur noch am Rechner entstanden sind. Da stehe ich dann mit dem Leser vor dem Bild und vor dem Dilemma, dass es so was wie ein Original eigentlich gar nicht mehr gibt. Es gibt nur noch eine Ursprungsdatei, und auch die kann man kopieren. Da muss man sich fragen: Was ist eigentlich noch ein Original?

SPIEGEL ONLINE: Das in Ihrem Kopf vielleicht, und das können die Besucher ja zumindest zur Ausstellungseröffnung live abrufen.

Jamiri: So ist das. Oder: "Wenn Sie so wollen", wie Antonia Rados, die RTL-Reporterin, sagen würde.

SPIEGEL ONLINE: Und das sollen jetzt die überzeugenden Gründe gewesen sein, den Weg nach Kassel zu wagen? Mir reicht das nicht: Überzeugen Sie mich mal!

Jamiri: Nun, am Freitag ist das natürlich vor allem die Gelegenheit, den Künstler einmal live zu erleben, der sich alle Mühe geben wird, alle Erwartungen nicht nur zu erfüllen, sondern zu sprengen.

SPIEGEL ONLINE: Und das vom eher schüchternen Jan Michael Richter. Ist das alles?

Jamiri: Nein. Es geht auch darum, dem Genre Comic die Ehre zu erweisen. Ich fühle mich da jetzt nicht unbedingt auf einer Mission, aber ich würde schon gern dazu beitragen, dass das Medium Comic endlich als das gesehen wird, was es im franko-belgischen Raum schon lange Zeit ist: die neunte Kunst.

Die Fragen stellte Frank Patalong

Zur Ausstellung:

Jamiris "Richterskala"
9. Mai bis 27. Juli 2003
Ort: Caricatura, Galerie für komische Kunst im KulturBahnhof, Kassel
Geöffnet: Do/Fr 14 - 20 Uhr und Sa/So/Feiertag 12 - 20 Uhr

Eröffnung: Freitag, den 9.Mai 2003, um 19.30 Uhr
Laudatio: Joachim Kaps (Verlagsleiter Carlsen Comics)
Musik: Matthias Rethmann (Kontrabass), Ulf Richter (Piano)
Der Eintritt zur Vernissage beträgt 3 Euro.

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