
SPIEGEL


Ken Jebsen, Donald Trump und Parler Was bringt das digitale Hausverbot?

Liebe Leserin, lieber Leser,
die Lesermails zu unserer Meldung, dass YouTube den Verschwörungsschwurbler Ken Jebsen endgültig gesperrt hat, haben mich enttäuscht. »Diktatur«, »Zensur«, »Schafe« – das übliche, einfallslose Vokabular der selbst ernannten Meinungsfreiheitskämpfer eben. Nicht einmal eine originelle Beschimpfung war dabei. Am interessantesten fand ich noch jene Zuschrift, die aus genau einem Satz bestand: »Stört mich nicht, folgen kann man ihm bei Telegram.«
Ich weiß zwar nicht, warum sich dieser offenbar pragmatisch denkende Mensch die Mühe gemacht hat, diesen Satz als Lesermail an die Redaktion zu schicken. Aber er hat damit das Thema für diesen etwas ausführlicheren Newsletter gesetzt: Was bringt das sogenannte Deplatforming eigentlich?
Deplatforming ist der Fachbegriff für Rausschmiss: So nennen es die Betreiber von sozialen Netzwerken oder anderen digitalen Bühnen und Infrastrukturen, wenn sie beschließen, bestimmten Nutzerinnen und Nutzern oder gleich ganzen Gruppen oder gar Netzwerken nicht länger eine Plattform zu bieten. Für sie selbst funktioniert das überwiegend, besagen Forschungsergebnisse:
Als Twitter im Jahr 2015 verstärkt gegen Account-Inhaber vorging, die zu den Unterstützern des sogenannten »Islamischen Staats« gezählt wurden, versuchten die zwar oft, mit neuen Konten weiterzumachen. Doch ihre alte Reichweite erreichten sie nicht mehr, wie aus dieser Studie der George Washington University hervorgeht.
Eine Studie des Georgia Institute of Technology ergab 2017, dass Reddit insgesamt friedlicher wurde, nachdem im Jahr 2015 zwei besonders hasserfüllte Subreddits (Unterforen) geschlossen wurden. Deren Nutzerinnen und Nutzer verließen Reddit überdurchschnittlich oft. Wer blieb und auf andere Subreddits auswich, gab weniger Hate Speech von sich als zuvor.
»Das Deplatforming zentraler rechtsextremer Akteure schränkt deren Mobilisierungskraft deutlich ein und nimmt ihnen eine zentrale Ressource, auf die ihre Inszenierungen abzielen: Aufmerksamkeit« – so steht es in der Ende 2020 veröffentlichten Studie »Hate not found?! Das Deplatforming der extremen Rechten und seine Folgen« des Instituts für Demokratie und Zivilgesellschaft (IDZ) in Jena.
Aber eine Sperre in einem einzigen sozialen Netzwerk hat andere Effekte als eine Sperre in mehreren Netzwerken zur gleichen Zeit. Erinnern Sie sich noch an den 45. Präsidenten der Vereinigten Staaten? Der konnte in den letzten Tagen seiner Amtszeit weder auf Twitter, Facebook und Instagram, noch auf YouTube, Snapchat und Twitch etwas veröffentlichen. Wenn Sender und Empfänger keine der besonders zugänglichen Plattformen mehr zur Verfügung steht, bleibt nur der Aufbau eines eigenen Netzwerks oder der Rückzug in Nischennetzwerke – und den machen längst nicht alle mit. Wenn die Nischen zu extrem sind, taugen sie nicht als Ersatz für gemäßigte Empfänger. »Der Rückzug auf Alternativplattformen kann die Löschung aus dem digitalen Mainstream nicht ausgleichen«, heißt es in der IDZ-Studie.

Alles andere als mundtot: Ken Jebsen
Foto: Rolf Zöllner / imago imagesNoch gravierender kann ein Rauswurf auf anderen technischen Ebenen wirken: Wer in keinem App Store mehr zugelassen wird, keinen Zahlungsdienstleister mehr findet oder keinen Provider, der die eigene Website hostet, wird es schwer haben, einen leistungsfähigen Ersatz zu finden. Parler ist zuletzt derart entplattformt worden.
Je tiefer man geht, je näher man sich technischen Dienstleistern nähert, die eigentlich der Netzneutralität unterliegen sollten, desto eher müsste man sagen: »Die können keine willkürlichen Zensoren werden oder entscheiden, welche Ideen durch das Internet fließen«, wie es die Expertin Daphne Keller von Stanfords Cyber Policy Center in diesem empfehlenswerten Podcast von »The Verge« sagt.
Deplatforming hat Wissenschaftlern zufolge auch problematische Effekte: Die Betroffenen könnten sich weiter radikalisieren, wenn die Ausweichplattformen weniger streng moderieren und Gegenrede durch Andersdenkende fehlt, und das in Nischen, die für Forscher und Strafverfolger schwerer zu beobachten und zu verstehen sind, wie diese Untersuchung von 2020 und diese 2019 in »Nature« veröffentlichte Studie nahelegen.
Ken Jebsens Reichweite hat sich durch den Rausschmiss aus YouTube vorerst um mindestens einige Hunderttausend Abonnenten verringert. Aber ihm bleiben rund 110.000 Fans auf Telegram und mehr als 40.000 auf Twitter sowie knapp 60.000 auf Instagram. Er ist also alles andere als mundtot. Zudem könnte ihm die Berichterstattung über den YouTube-Rauswurf kurzfristig noch mehr Aufmerksamkeit verschafft haben. Auch das ist ein Nebeneffekt des Deplatformings.
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Instagram-tauglich ist sie nicht, aber die von »The Register« beschriebene App verfremdet Fotos so, dass Menschen problemlos erkennen, wer abgebildet ist, wohingegen sie als Trainingsmaterial für kommerzielle Gesichtserkennungssoftware praktisch untauglich werden.
Kommen Sie gut durch die Woche,
Ihr Patrick Beuth