
S.P.O.N. - Die Mensch-Maschine Unbeschwert durchs Überwachungsnetz

Tempora heißt die gegenwärtige Scheibe der Spionagesalami, diesmal ist es der britische Geheimdienst, und offenbar hat dessen Überwachungsstrategie die chirurgische Präzision eines Staubsaugers. Die Regierung ist irgendwie besorgt, wie zuvor bei Prism. Aber worum genau? Angela Merkel hat mit Barack Obama über das Internet gesprochen, wie sie am 19. Juni 2013 in einer Pressekonferenz erklärte. Dabei sagte sie: "Das Internet ist für uns alle Neuland." Die intensiven Reaktionen der deutschen Netzkennerschaft auf diesen Satz erklären sich simpel. Ihnen wurde in einem Satz vor Ohren geführt, dass sie nicht Teil der Gruppe sind, die Merkel als "wir alle" empfindet: die Wut der Außenseiter. Abgesehen davon gäbe es sehr gute Argumente, das Netz als ständiges Neuland für ausnahmslos jeden zu begreifen - wer von sich behauptet, das Internet wirklich, wirklich verstanden zu haben, für den ist Hybris bloß ein Computerspiel auf dem Amiga.
Betrachtet man die Angelegenheit #Neuland historisch, verschiebt sie sich in völlig andere Dimensionen. Amerika wird über 500 Jahre nach der Entdeckung noch immer als "Neue Welt" bezeichnet, neu ist und bleibt, was zuletzt dazukam. Die wirklich erschütternde Formulierung war nicht die Feststellung über die digitale Welt als Neuland. Sondern Merkels Schlussfolgerung daraus : "Wir müssen das richtige Verhältnis finden, die Balance, die Verhältnismäßigkeit, zwischen Sicherheit für unsere Menschen in unseren Ländern, […] und auf der anderen Seite die Unbeschwertheit, mit der Menschen die neuen technischen Möglichkeiten nutzen möchten." Spätestens mit der Aufdeckung des britischen Spähprogramms Tempora, das an Glasfaserknoten ansetzen soll, um so nahezu den gesamten Netzverkehr zu vorratsdatenspeichern, erweist sich diese Merkelsche Perspektive als fatal. Völlig unabhängig davon, wie besorgt sich die Regierung mit jedem neu aufgedeckten Spionageprogramm gibt.
"Was der Bürger nicht weiß, macht ihn nicht heiß"
Denn natürlich ist die richtige Herangehensweise, eine Balance zu finden, also abzuwägen. Gruselig dagegen wird es bei der Frage, was genau abgewägt wird. Auf der einen Seite steht wie üblich die Sicherheit. Auf der anderen Seite aber stehen nicht Privatsphäre, Bürgerrechte oder die Freiheit selbst - sondern laut Merkel Unbeschwertheit. Das aber ist ein Gefühl, das ebenso nach dem alten Sprichwort erreicht werden kann: "Was der Bürger nicht weiß, macht ihn nicht heiß."
Unbeschwertheit ist wahlweise die Folge von fehlender Kenntnis der Sachlage oder dem Ignorieren derselben. Bei einem so delikaten Thema, in einer solchen Situation muss man unterstellen dürfen, dass die Kanzlerin ihre Worte absichtsvoll wählt. Hier zeigt sich das Dilemma, in dem Deutschland mit Prism steckt und das durch die Überwachungsmonstrosität Tempora des britischen Geheimdienstes noch verstärkt wird.
Damit die Grundrechte gewahrt bleiben, muss die Politik entschlossen der eingebauten Überwachungssucht der Nachrichtendienste entgegen- und für die Verfassung eintreten. Und eben nicht für ein diffuses Gefühl, das sich erwiesenermaßen nach drei Sekt auf Eis selbst im brennenden Tigerkäfig einstellen kann. Merkel manipuliert den selbstgeforderten Abwägungsprozess mit dieser schiefen Gegenüberstellung von Anfang an. Und leider nicht nur Merkel.
50 Fälle aufgedeckt, millionenfach Grundrechte ausgehebelt
Die meisten anderen Parteien bieten in diesem Punkt keine Alternative, es sind eher einzelne Politiker, für die digitale Bürgerrechte nicht nach Gedöns klingen. Auf der Regierungsseite erschien unmittelbar nach Prism und Tempora Justizministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger als einzige, die sich angemessen über die richtigen Aspekte empörte. Wofür sie von konservativer Seite sogleich getreten wurde.
Dabei konnte man in derselben Pressekonferenz erfahren, dass eine ernsthafte Abwägung von Nutzen und Schaden der Überwachung durch die NSA durchaus Sinn ergibt. Barack Obama sprach von "mindestens 50 Bedrohungen, die abgewendet werden konnten, nicht nur in den Vereinigten Staaten, sondern in manchen Fällen auch in Deutschland". Obama bezieht sich dabei auf Prism, was bedeutet, dass seit 2007 jährlich rund sieben Fälle aufgedeckt werden - und das offenbar weltweit. Dem steht gegenüber, ein halbes Dutzend Grundrechte für viele Millionen Menschen auszuhebeln.
Selbst als Bürgerrechtsaficionado wird man zugestehen müssen, dass die Abwägung Sicherheit versus Freiheit alles andere als simpel ist. Umso wichtiger, dass dieser Vorgang im politischen Bewusstsein darüber geschieht, was auf dem Spiel steht: die Aushöhlung oder gar Abschaffung zentraler Grundrechte im digitalen Raum. Und nicht das Fun-Gefühl der Unbeschwertheit. Die Abwägung aber zwischen Menschenleben und Eingriff in persönliche Rechte und Freiheiten ist kein Neuland - im Gegenteil. Die Freiheit des motorisierten Individualverkehrs, quasi das Recht, ein Automobil zu führen, kostet allein in Deutschland jährlich rund viertausend Tote. Zwar taugt der Straßenverkehr nur sehr eingeschränkt als Vorbild für das Internet. Aber das Beispiel zeigt, dass zum Schutz von Menschenleben eben nicht alles irgendwie Realisierbare getan wird, sondern dass Freiheiten und selbst Kosten eine Rolle spielen.
Immerhin ist die Erfahrung um Merkels #Neuland eine gut funktionierende Anleitung für die Verkündung unangenehmer netzpolitischer Nachrichten. In Zukunft sollte begleitend einfach ein kruder oder unverschämter Internet-Vergleich fallengelassen werden. Die Netzwelt wird zielsicher 90 Prozent ihrer Aufmerksamkeit auf die tagelange, zornige Diskussion lenken, ob das Internet ein Käseigel ist oder nicht.
tl;dr
Bei der Überwachung sieht Angela Merkel eine Abwägung zwischen Sicherheit und Unbeschwertheit, wo es eigentlich um Grundrechte geht.