
Künstliche Intelligenz Wir müssen das Internet neu lernen

Dieser Artikel gehört zum Angebot von SPIEGEL+. Sie können ihn auch ohne Abonnement lesen, weil er Ihnen geschenkt wurde.
Man kann den »Zauberlehrling« bemühen. Den jungen Mann, der Geister rief, ihnen aber schnell nicht mehr gewachsen war. Das berühmte Gedicht von Goethe ist mehr als 200 Jahre alt. Es geht um einen Machtrausch, doch darauf folgen Angst, Verzweiflung, Hilferufe.
Dass es jetzt IT-Prominenten mit der künstlichen Intelligenz ähnlich geht, wäre lustig, wenn es nicht so traurig wäre. Milliarden Dollar haben mächtige Techkonzerne in die Entwicklung dieser Instrumente gesteckt, ein jahrelanger Prozess. Hinweise auf die Schwachstellen der Programme gab es schon lange. Sie wurden kleingeredet, als es darum ging, sich auf dem Markt zu behaupten.
Jetzt, wo mächtige Tools wie ChatGPT und Bildgeneratoren die breite Masse erreicht haben, wollen Experten und Wissenschaftler die Entwicklung ausbremsen, mit einem sechsmonatigen Moratorium für das Training besonders weit fortgeschrittener KIs. Open-AI-Mitgründer Elon Musk und Apple-Gründer Steve Wozniak erkennen nun »tiefgreifende Risiken für die Gesellschaft und die Menschheit«, schreiben sie in einem offenen Brief.
The Pope Drip
by in midjourney
»Artificial Stupidity«
Sorgen sind berechtigt. Künstliche Intelligenz bedeutet einen tiefgreifenden Wandel, vielleicht den größten, den es je gab. Die Technik muss reguliert werden, sonst potenziert sie nicht nur das Wissen der Menschheit, sondern auch ihre Fehler, Willkür und Diskriminierungen. Sie entwickelt sich zu einer »Artificial Stupidity«, um es mit den Worten der Künstlerin und IT-Denkerin Hito Steyerl zu sagen.
Making pictures of Trump getting arrested while waiting for Trump's arrest. pic.twitter.com/4D2QQfUpLZ
— Eliot Higgins (@EliotHiggins) March 20, 2023
Dass sich die Konzerne jetzt noch fix auf gemeinsame Nutzungsregeln künstlicher Intelligenz einigen und sich politischen Regulierungen unterwerfen, darf allerdings bezweifelt werden. Das klappte schon bei Social Media und Kryptowährungen schlecht bis gar nicht. Die Gestaltungsmacht lag nicht in der öffentlichen Hand, sondern bei privaten Konzernen. Die Gesetzgebung hinkte weit hinterher. Die Fehler sind in der Welt, es gibt keinen Weg zurück.
Daraus folgt: Wir müssen misstrauischer mit unserem Internet umgehen – und zwar ab sofort und immer. Noch misstrauischer als bisher. Skepsis ist angesagt. Internetnutzung ist eine Kulturtechnik, deren Regeln sich immer wieder ändern. Dieses neue Bewusstsein müssen vor allem jene Teile der Bevölkerung lernen, die sich eigentlich nicht für künstliche Intelligenz interessieren, denn sie werden trotzdem von ihr umgeben sein, ohne es zu merken.
Entfernte Bekannte zeigen sich auf Facebook am Strand von Bali? Wer weiß, ob sie je dort waren. Das Kleid sieht vorzüglich aus an dieser Frau? Vielleicht existiert das Model gar nicht. Auf Reddit trägt der Papst einen Rapper-Parka, auf Twitter wird Donald Trump verhaftet ? Beide Bilder sind KI-generiert. Keanu Reeves scrollt in einem Instagram-Video übertrieben lange am Handy, um sein Geburtsjahr einzustellen? Nie passiert. Jeden Tag kommen neue Fakes hinzu.
Und sollte Lehrern auffallen, dass schriftliche Hausaufgaben plötzlich zuverlässig und ausführlich erledigt werden, könnte es daran liegen, dass Aufsätze spätestens seit letztem November – dem Erscheinen von ChatGPT – nur einen kurzen Befehl erfordern. Schon Zwölfjährige können das.
Hier kommt kein Zaubermeister mehr zu Hilfe
Es hilft also, das Hirn einzuschalten. Auch wenn Bilder täuschend echt aussehen, Texte wunderbar plausibel klingen, sich plötzlich Dinge wie von allein lösen.
Auch Medienhäuser müssen aufwachen. Je alltäglicher künstliche Intelligenz wird, je häufiger nun Fake-Bilder und Falschinformationen die Runde machen, desto schwieriger wird es, Leser von der Echtheit des eigenen Contents zu überzeugen. Wir brauchen Disclaimer, die klarstellen, dass Verlage nicht mit KI-Tools arbeiten. Pressebildagenturen können in AGB festlegen, dass Fotografinnen nur Bilder mit Echtheitszertifikaten verkaufen. Soziale Netzwerke können beim Hochladen von Bildern unterscheiden, ob die Aufnahme sofort von der Handykamera kommt oder aus einer Sammlung: So machen es bereits Snapchat oder BeReal.
Die Gesellschaft muss lernen, mit den Geistern umzugehen, die OpenAI, Google und Microsoft in die Welt riefen. Das ist aufwendig und anstrengend für jeden Einzelnen von uns. Doch den Zaubermeister, der bei Goethe den Spuk mit »Besen, Besen! Seid’s gewesen« löst, wird es definitiv nicht geben.