Medien im Wandel Der Rechner als Redakteur

Automatische Nachrichtenangebote erobern das Internet. Printmedien und Online-Redaktionen konkurrieren nicht nur miteinander - sondern auch mit Algorithmen, die Nachrichten nach Popularität und Verbreitung gewichten. Ist der Journalismus vom Aussterben bedroht?

"Heute ... ist die 'New York Times' offline gegangen. In einem schwachen Versuch des Protestes gegen Googlezons Übermacht ist die 'New York Times' zu einem ausschließlich in gedruckter Form erhältlichen Newsletter für die Elite und für ältere Menschen geworden."

Es ist, aus Sicht vieler jedenfalls, eine düstere Zukunftsvision, die eine sanfte Stimme im online verfügbaren Kurzfilm "Epic 2014"  beschreibt. Zwei amerikanische Journalisten namens Robin Sloan und Matt Thompson haben den Achtminüter gemacht, und damit eine globale Diskussion über die Zukunft des Journalismus ausgelöst.

Von realen Ereignissen der Vergangenheit, etwa dem Erfolg von Google, Blogs, Friendster und Amazon.com, spinnt "Epic 2014" den Faden weiter - bis zu einer Welt, in der Computeralgorithmen aus dem "Content", der im Netz herumschwirrt, ein für jeden Konsumenten individuell zurechtgerührtes Süppchen kochen: "Der Computer schreibt eine eigene Nachrichtengeschichte für jeden Nutzer."

"Es gibt da definitiv Darwinismus"

Der Chefredakteur des britischen Webangebotes von Yahoo, Simon Hinde, findet das nicht abwegig: "Das ist ein großartiger Schnappschuss davon, wo es hingeht", behauptete Hinde vergangene Woche laut der Journalisten-Webseite Journalism.co.uk bei einer Podiumsdiskussion. Die Teilnehmer der Debatte in der Londoner City University hatten sich "Epic 2014" angesehen und sprachen dann über die Zukunft des Journalismus.

Hinde: "Es gibt da definitiv Darwinismus - eine evolutionäre Bewegung in unseren Medien. Es wird keine 'one size fits all'-Mentalität mehr geben, sondern eine Sammlung von Nischen-Nachrichtenseiten, und für die wird Personalisierung und Filterung nötig sein." Die Menschen wollten "demokratische, partizipatorische, vielseitige Nachrichten", sagte Hinde, der früher für den "Daily Express" und die "Sunday Times" gearbeitet hat.

Die Macher von "Epic 2014" teilen Hindes Begeisterung für die mögliche Entwicklung zur automatisierten Nachrichtenverwurstung keineswegs. Sie gaben dem Ende 2004 erstmals veröffentlichten Film kürzlich sogar einen neuen Schluss , weil sie fürchteten, die erste Version könne zu düster ausgefallen sein. "Zu viele Leute sahen sich Epic 2014 an und dachten, wir hassen das Internet", sagte Sloan Journalism.co.uk. Die Düsternis scheint der ersten Fassung allerdings nicht geschadet zu haben: Allein von Sloans eigener Seite wurde der Film über 500.000-mal heruntergeladen, auf vielen anderen Seiten wird er ebenfalls zum Download angeboten.

Die Algorithmus-Nachrichten sind längst unter uns

Der Film ist zwar eine Dystopie, eine negative Utopie, die vor Fehlentwicklungen warnen will - computergenerierte Nachrichtenangebote sind aber längst keine Zukunftsvision mehr.

GoogleNews etwa, der an die Suchmaschine angeschlossene Nachrichtendienst, kommt völlig ohne Redaktion aus. "Unsere Crawler durchsuchen permanent das Internet nach Nachrichten", erklärt Google-Sprecher Stefan Keuchel. Durch Algorithmen werden doppelt erschienene Meldungen unter "ähnliche Artikel" zusammengefasst, die gefundenen News werden nach Aktualität und Glaubwürdigkeit der Quelle gewichtet. Ein "virtueller Zeitungskiosk" soll GoogleNews sein - und ist doch in Wahrheit eine Art vollautomatisches Nachrichtenmedium.

Noch weiter geht Romso.de, ein Webdienst, der ebenfalls Nachrichtenangebote im Netz durchsucht: "Wir bauen aus verschiedenen Artikeln Satz- oder Kleinzitatsweise thematisch zusammenhängende Texte", erklärt Thorsten Blancke, einer der Betreiber. "Das ist der erste kleine Zwischenschritt hin zur Analyse von Texten, Auswertung und nachfolgender automatischen Volltextgenerierung", glaubt er. Auch dieser Prozess läuft vollautomatisch ab - ganz wie in "Epic 2014" vorhergesagt.

Bei Yahoo gibt es zwar eine Redaktion, aber auch deren Arbeit beschränkt sich hauptsächlich darauf, die anderer zu sortieren: Agenturmeldungen von DPA, AP, AFP und Pressetext.de bilden den Kern des deutschsprachigen Angebotes. Ein neuer Dienst des Suchmaschinenbetreibers erlaubt es sogar, per Stichwort "geschlossene" Angebote wie die Bezahlinhalte von Tageszeitungen zu durchsuchen. Die Rechercheleistung individueller Reporter oder Redaktionen verschwindet so beinahe. Sie wird zu einem Tröpfchen in einem weitgehend nivellierten Nachrichtenozean, in dem Wichtiges nicht von Unwichtigem, Neues nicht von Veraltetem und Exklusives nicht von Gemeinplätzen zu unterscheiden ist.

Die Zeiten, da der Auswurf des Tickers nur das Rohmaterial journalistischer Arbeit waren, sind fast vorbei: Jeder, der einen Internetanschluss und einen RSS-Reader - eine Art Schlagzeilen-Sammler - auf seinem Rechner installiert hat, kann sich schon jetzt seinen eigenen Nachrichtenticker basteln. Personalisierte Informationsdienste sind bereits greifbar - und werden durch Individualisierungswerkzeuge wie Googles MySearchHistory oder Amazons automatisch erzeugte Kaufempfehlungen immer alltäglicher.

Häufiger zitiert, seltener gekauft

Gleichzeitig sind die Giganten unter den Direktverwertern aber weiterhin darauf angewiesen, dass irgendwer all die Nachrichten, Hintergrundstücke und Reportagen produziert.

Simon Waldman, beim britischen "Guardian" zuständig fürs digitale Publizieren, klagte kürzlich im eigenen Blatt: "Ironischerweise, während in der westlichen Welt weniger und weniger Tageszeitungen verkauft werden, sind deren Inhalte niemals zuvor so weit verbreitet gewesen, nie wurde so viel über sie gesprochen, mit ihnen verlinkt, so viel Energie erzeugt wie heute."

Mit anderen Worten: Die journalistischen Schwergewichte dieser Welt erzeugen, was die digitale News-Maschinerie am Laufen hält - aber sie haben selbst immer weniger davon. "Ein Australier, der noch nie eine Druckausgabe des 'Guardian' in der Hand hatte, kann heute etwas lesen, das wir geschrieben haben, kann damit übereinstimmen oder anderer Meinung sein, darüber in seinem Blog schreiben, andere Blogger dazu bringen, es ihm gleichzutun. Monate später kann jemand in Chile dann über all das stolpern, während er bei Google nach etwas sucht", schreibt Waldman. Nur Zeitungen verkauft all das eben nicht.

Mehr noch. Weil die Inhalte der professionellen Medien oft nach einer gewissen Zeit in passwortgeschützten oder kostenpflichtigen Archiven verschwinden, bleibt im Web nur deren "Echo": Die Aufarbeitung der einst ja unter Kosten produzierten Information durch Blogger. Sehr schnell verschwindet da im Web das "Original" hinter all dem Reden darüber.

Über "Epic", das fiktive "Evolving Personalized Information Construct", das global-personalisierte Nachrichtennetz im Film von Sloan und Thompson, heißt es gegen Ende des Films, es sei "tiefer, weiter und nuancierter als alles jemals Dagewesene" - aber nur für die klügsten Leser.

"Für zu viele aber ist es nur eine Sammlung von Trivialitäten - viel davon unwahr, alles eingeengt, flach und auf Sensationen ausgerichtet."

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